Wer ist „fit“?

Schnelligkeit ist sicher eine sehr nützliche Fähigkeit. Der schnellste Jäger ist bekanntlich der Gepard – und der kämpft ums eigene Überleben. Andere sind langsamer, aber stärker als er, und sie nehmen ihm die Beute einfach weg, wie das so üblich ist, nicht nur beim Menschen.
Also gut, eine andere Eigenschaft: Stärke. Ausgewachsene männliche Löwen gehören zu den stärksten Tieren der afrikanischen Steppe. Aber sie sind so schwer, dass sie nicht mehr jagen können und von ihrem Harem abhängen. Verlieren sie den, weil sie von anderen Männchen entthront werden, dann müssen sie verhungern. Die anderen Männchen können ruhig schwächer sein, sie sind ja zu zweit.
Wie steht’s dann mit einer Eigenschaft, die wir in unserer Kultur stets und gerne mit „Tüchtigkeit“ assoziieren, nämlich mit der Aggressivität? Im Kambrium, im erdgeschichtlichen Altertum, gab es unzählige unterschiedlichste Lebensformen, von denen die meisten ausgestorben sind. Zwei sind besonders erwähnenswert: das aggressive Fressmonster Anomalocaris, ein Ungetüm von mehreren Metern Länge, mit einem rasiermesserartigen Maul; und der ängstliche, schutzlose Wurm Picaia, der sich gegen die Fressmonster seiner Umgebung kaum wehren konnte. Wer, glauben Sie, hat überlebt? Es war der ängstliche Wurm, von dem wir alle abstammen.
Wie steht’s denn mit der Fähigkeit, möglichst viele Nachkommen in die Welt zu setzen, also mit der Fruchtbarkeit? Das ist zweifellos ein Vorteil in Zeiten der Turbulenz, sonst aber nicht. Schlupfwespen legen im Jahr ein einziges Ei in eine lebende Spinne, und das war’s. Und sie leben gut mit der Methode.
Doch eines scheint festzustehen: Je besser sich ein Lebewesen der Umwelt anpassen kann, desto bessere Chancen hat es im Kampf ums Dasein. Eine Eigenschaft, die das Überleben garantiert sichert, wäre danach die Flexibilität. Auch falsch: Eines der ältesten höheren Lebewesen ist der Pfeilschwanzkrebs. Seit 450 Millionen Jahren führt er das gleiche Leben: Weder Körperbau noch Lebensweise haben sich geändert. Inzwischen picken ihm die Möwen die Eier weg, die er bei Vollmond in den Sand legt. Es juckt ihn nicht; stur und unbeweglich lebt er vor sich hin, als er größte Überlebenskünstler im Tierreich.
Je schärfer jemand sieht – also gute Sinnesleistungfen – desto besser müsste es für den Kampf ums Dasein gerüstet sein. Stimmt nicht: So scharf wie der Adler sieht niemand, aber dieses Lebewesen ist vom Aussterben bedroht. So wenige Sinneseindrücke wie die Ameisen hat kaum jemand: Sie sehen nichts und hören nichts, sie tasten nur und riechen. Dennoch gehören sie zu den Lebensformen, um deren Überleben sich niemand Gedanken machen muss.
Der Mensch hat eine Fähigkeit, die wir bei keinem Tier finden, nämlich Bewusstsein. Ist das nicht ein Vorteil ums Überleben? Nein, sagen manche Biologen, denn genau dieses Bewusstsein seiner selbst schneidet den Menschen von den Lebewesen seiner Umwelt ab. Da der Mensch sich selber sieht, sieht er nur noch sich selbst. Ergebnis: Rücksichtslos vernichtet er seine natürliche Umwelt, bis nichts mehr übrig bleibt und die Erde einem sechsten Massensterben entgegengeht, diesmal von Menschenhand bewirkt.
Stellen wir uns jetzt ein Lebewesen vor, das sämtliche Eigenschaften besitzt, von denen wir meinen, dass sie fürs Überleben besonders geeignet sind. Nicht einmal so etwas würde helfen: Bei einer Massenvernichtung durch einen Kometen- oder Meteoriteneinschlag helfen die besten Fähigkeiten nichts. Wer hier überlebt, hat schlicht und einfach Glück, sonst nichts. Und denken Sie nicht, dass die Welt nur von bestens angepassten Lebewesen bevölkert ist. Nehmen wir ein Gegenbeispiel, eine völlige Fehlkonstruktion der Natur: den allseits beliebten Pandabären. Er hat den Magen eines Fleischfressers, ernährt sich aber ausschließlich von Pflanzen, noch dazu von nur einer einzigen: Bambus. Seine Verdauung ist derart uneffektiv, dass ihm außer ständigen Fressens nicht viel übrigbleibt. Das ist so ähnlich, als ob Sie Ihre Wohnung im Winter mit Ihrem Kühlschrank heizen. Dennoch existiert auch der Pandabär nun schon seit etlichen Millionen Jahren, immerhin länger als der Mensch.
Fazit: „Fit“ kann offenbar nicht definiert werden. Also ist der Ausspruch „Nur die Fittesten überleben“ reichlich sinnlos.

Wer mehr wissen will, kann sich das Buch als pdf-Datei hier herunterladen.

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