Das Handschlag-Universum

Der erste moderne Weltentwurf, der rein auf Symmetrie-Überlegungen basiert, stammt von Richard Feynman (Nobelpreisträger) und John Archibald Wheeler (Schöpfer des Terminus „Schwarze Löcher“) aus dem Jahr 1945. Er basiert auf den symmetrischen Lösungen der Wellengleichung.
Stellen Sie sich einen Stein vor, der ins Wasser geworfen wird. Von diesem Moment an entsteht eine Welle, die sich im Raum (ins Unendliche) und in der Zeit (in die Zukunft) ausbreitet. Die Physiker haben dafür auch eine hübsche Gleichung, die ihnen das Verhalten einer solchen Welle mathematisch exakt beschreibt. Diese Gleichung hat aber immer zwei Lösungen, von denen eine stets sofort verworfen wird. Die erste Lösung (die „retardierte“) beschreibt die Welle so, wie sie oben geschildert wurde und wie sie jeder Beobachter erlebt. Sie hat damit zu tun, dass etwas ausgesendet wird, darum heißt sie auch „Emitter„-Lösung (Emitter = Sender). Die zweite (die „avancierte“) beschreibt alles genau umgekehrt: Aus weiter Ferne und aus der Zukunft kommt ein schwaches Gekräusel, das sich im Hier und Jetzt zu einem singulären Ereignis verdichtet: Ein Stein wird aus der Wasseroberfläche gehoben. Diese Lösung hat damit zu tun, dass etwas aufgenommen wird, darum heißt sie auch „Absorber„-Lösung (Absorber = Empfänger). Bei dieser Welle läuft die Zeit umgekehrt, von der Zukunft in die Vergangenheit.
Natürlich ist eine solche Beschreibung der Wirklichkeit Unsinn – oder doch nicht? Nein, denn in der Quantenphysik passiert so etwas dauernd: Ein Foton, also ein Lichtteilchen, das gleichzeitig auch Welle ist, stößt auf ein Elektron, das ein Atom umkreist. Das Foton gibt seine Energie an das Elektron ab und bringt es dadurch auf eine höhere Bahn – ein Stein wird gehoben! Natürlich läuft das Foton nicht verkehrt in der Zeit – zumindest nehmen wir das an. Beweisen können wir es nicht.
Ausgehend von einer strengen Symmetrie (= Gleichberechtigung) der beiden Lösungen entwickelten Feynman und Wheeler die „Emitter-Absorber-Theorie„. Sie untersuchten mathematisch, ob ein Universum existieren kann, in dem beide Wellenformen vorkommen können, eine, die in die Zukunft wandert, eine andere, die aus der Zukunft kommt und damit die Gegenwart (also ihre eigene Vergangenheit) beeinflusst. Ihr Ergebnis: Nimmt man an, dass alle Wellen halbe-halbe existieren, also eine Hälfte „retardiert“, die andere „avanciert“, dann könnte man die so konstruierte Welt nicht von der wirklichen Welt unterscheiden, zumal wegen der Zunahme der Entropie alle avancierten Wellen verschwinden und damit nicht nachgewiesen werden können. Mit anderen Worten: Es wäre möglich, dass die Welt auch von der Zukunft her beeinflusst wird, vorausgesetzt, die Welt ist ebenfalls streng symmetrisch in Raum und Zeit.
Das aber ist sie nicht. Jedenfalls glauben die Astronomen, dass die Welt aus einem Urknall entstand und sich ausdehnt. Bei einem expandierenden Universum braucht aber die avancierte Welle länger als die retardierte (sie entsteht ja erst in der Zukunft, und da ist die Welt schon größer geworden), und die Symmetrie ist zerstört.
Der Physiker John Cramer hat die Feynman-Wheelerschen Ideen verfeinert und eine Theorie entwickelt, die er Handschlag-Hypothese nennt. Und das geht so: Wird ein Foton (ein Lichtteilchen) von einem Atom emittiert, also – von uns aus gesehen – erzeugt, dann wird dieses Lichtteilchen irgendwann, vielleicht erst in ferner Zukunft, auch wieder absorbiert, also von uns aus gesehen, verschluckt oder vernichtet. Das erste – die Erzeugung – kann aber erst stattfinden, wenn das zweite – die Vernichtung schon feststeht. Beide Ereignisse senden nun Wellen ins All, in die Zukunft bzw. in die Vergangenheit. In der Mitte des Raums und in der Mitte der Zeit treffen sie auf einander und schütteln sich, bildlich gesprochen, die Hände. Erst durch diese Bestätigung des physikalischen Pakts entsteht der gesamte Prozess. Außerhalb des Wegs der beiden Wellen verschwinden die Wellen, nur auf dem gemeinsamen Weg durch Raum und Zeit verstärken sie einander.
Jetzt muss Cramer aber noch erklären, warum wir nie avancierte Wellen beobachten. Das liegt daran, so Cramer, dass alle Wellen aus der Zukunft in der Singularität des Urknalls vernichtet werden. Kurzum: Cramers Theorie funktioniert nur dann, wenn die Welt asymmetrisch ist, aus dem Nichts entstand und ewig expandiert. Eine erstaunliche Erkenntnis: Symmetrie nur wegen Asymmetrie! Verschwinden die avancierten Wellen nicht, gäbe es eine Beeinflussung der Gegenwart aus der Zukunft – oder der Vergangenheit aus der Gegenwart. Das führt dann zu den beliebten und bekannten Paradoxien von Zeitreisen, zur Verletzung der Kausalität, zu einer Welt ohne Stabilität, ohne festen Boden, ohne Berechenbarkeit und ohne Gesetze. Aber wer weiß, vielleicht leben wir ja in einer solchen Welt.
Vielleicht aber auch nicht. Setzen wir, als reine philosophische Spekulation, die Geburt eines Lichtteilchens (= Emission) der Geburt eines Menschen gleich, dessen Tod (= Absorption) mit dem Tod des Menschen, dann wird nach dieser Theorie sein Leben von der Zukunft her beeinflusst. So etwas haben viele Religionen auch behauptet. Sie nennen die Macht, die uns aus der Zukunft her beeinflusst, Schutzengel, geistige Führer, Fatum, usw. Es ist, als ob ein Wesen unser Schicksal kennt und alle Geschehnisse, soweit es ihm möglich ist, von diesem Standpunkt aus lenkt. Die Welt entfaltet sich nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft. Und die Bedeutung eines Vorfalls wird nicht nach den Kräften beurteilt, die dazu führten, sondern danach, wie er in den großen Lebensplan passt, den wer auch immer einmal aufgestellt hat.

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