Ørstedt: Falsche Analogien

Sie kennen sicher das berühmte Experiment mit der Kompassnadel, über die Strom fließt, der sie aus der Nord-Süd-Richtung ablenkt. Können Sie sich vorstellen, dass der Entdecker dieses Effekts, der dänische Apotheker Hans Christian Ørstedt (1777 – 1851), ganze acht Jahre brauchte, bis er 1820 diesen Effekt entdeckte, und das auch nur aus Versehen?
Bevor wir den steinigen Weg der Erkenntnis zusammen mit dem däünischen Physiker gemeinsam beschreiten, machen wir ein paar Überlegungen zu Spieglungen. Stellen Sie sich einen Strom durchflossenen Leiter vor und rechts davon einen Spiegel. Nichts ändert sich im Spiegelbild. Der Strom fließt weiterhin von minus nach plus, die Form des Drahts und der Elektronenfluss bleiben gleich. Jetzt machen Sie das Gleiche mit einer Kompassnadel. Auch hier ändert sich nichts im Spiegelbild: Der magnetische „Strom“, repräsentiert durch die Feldlinien, fließt weiterhin von Süd nach Nord. Als letztes nehmen wir das berühmte Experiment von Ørstedt. Im Spiegelbild wird die Nadel nach der anderen Richtung abgelenkt, obwohl die physikalischen und geometrischen Verhältnisse die gleichen geblieben sind. Was ist hier geschehen? Warum funktionieren die Einzelteile in der Spiegelwelt wie gewohnt, ihre Kombination indessen nicht?

Spiegelbilder: Sie beeinflussen weder Elektrizität noch Magnetismus, wohl aber deren Kombination.


Und nun vergessen Sie alles, was Sie im Physik-Unterricht gelernt haben, und versetzen sich in Ørstedts Zeit. Man wusste damals, dass Elektrizität und Magnetismus viel gemeinsam haben. Beide besitzen positive und negative Pole, wobei gleichpolige Elemente einander abstoßen, gegenpolige einander anziehen. Beiden Phänomenen scheint ein Fluidum zugrunde zu liegen, also irgendetwas Fließendes. Bei der Elektrizität ist das klar, man spricht ja von elektrischem „Strom“. Beim Magnetismus hat dieser Fluss später auch einen Namen bekommen („magnetischer Fluss“); er wurde durch die Faradayschen Feldlinien auch äußerlich sichtbar.
Wie könnten diese beiden Flüsse einander beeinflussen? (Schönes Wortspiel!) So, wie Flüsse das üblicherweise tun. Fließen sie parallel, könnte der eine den andern beschleunigen. Das ist in unserem Fall eher unwahrscheinlich, zumindest schwierig zumessen. Denn der elektrische Strom breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus, und wie sollte man da feststellen, ob er schneller oder langsamer wird? Die Geschwindigkeit des magnetischen Stroms ist unbekannt, aber sicher auch viel zu groß. Also bleibt die zweite Möglichkeit: Der eine Strom trifft senkrecht auf den anderen und lenkt ihn ab. Das könnte so aussehen:

Ablenkung einer Magnetnadel durch den elektrischen Strom (logische Version). So ist es aber nicht.


Wie gesagt, acht Jahre lang versuchte Ørstedt, mit dieser Version der Versuchsanordnung die Ähnlichkeit der beiden Naturerscheinungen nachzuweisen, ohne Erfolg. Bis er dann eines Tages, noch dazu im Hörsaal, den Draht falsch platzierte. Und siehe da: Es gab einen Effekt! Der sah so aus, wie wir ihn aus der Schule und aus Physik-Büchern kennen, und wie er zunächst völlig unverständlich ist:

Ablenkung einer Magnetnadel durch den elektrischen Strom (unlogische Version). So ist es wirklich, aber warum?


Was ist hier los? Haben wir falsch gedacht? Nein, nicht wirklich. Die Sache ist nur wesentlich komplizierter als es scheint. Magnetismus ist bei aller Ähnlichkeit mit seiner Schwester Elektrizität doch eine gänzlich andere Erscheinung. Sogar Ørstedt erkannte am Ende seines Lebens: Magnetismus muss irgendetwas mit einer Drehbewegung zu tun haben. Heute wissen wir: Auch wenn ein Stabmagnet äußerlich einem Strom durchflossenen Leiter ähnelt, sind die magnetischen Vorgänge keine Ströme in Süd-Nord-Richtung, sondern Wirbelfelder. Die wahre (und damit wieder verständliche) Anordnung sieht also so aus:

Ablenkung einer Magnetnadel durch den elektrischen Strom (logische und realistische Version). Der elektrische Strom erzeugt ein magnetisches Wirbelfeld, das die Magnetnadel nach links ablenkt. Das gilt aber nur, wenn der elektrische Strom oberhalb der Nadel fließt!


Fließt der elektrische Strom unterhalb der Nadel, dreht sich die Ablenkungsrichtung um.

Wir sehen: Die Idee der Symmetrie hat hier den wissenschaftlichen Fortschritt behindert. Immerhin hat sie auch den Fortschritt gefördert, denn eine andere Spiegelsymmetrie hilft sehr beim Verständnis der elektromagnetischen Erscheinungen:


Bewegte elektrische Ladungen (also ein elektrischer Strom) erzeugen ein magnetisches Ringfeld


Bewegte magnetische Ladungen (eine Art mechanischer magnetischer Strom) erzeugen ein elektrisches Ringfeld


Doch die Ignoranz der Unterschiede zwischen Elektrizität und Magnetismus behindert weiterhin den Fortschritt, denn sowohl Elektrizität als auch Magnetismus werden als gleich aussehende Vektoren dargestellt, was zu einiger Verwirrung führt. Die Spiegelung des elektrischen Stroms an einem Spiegel parallel zum Leiter haben wir oben schon gesehen. An der Stromrichtung ändert sich nichts; ein solcher Vektor heißt polar oder „echt“. Spiegelt man dagegen einen Magneten (dargestellt durch einen axialen oder Pseudo-Vektor), dann dreht sich die Flussrichtung um:

Spiegelung eines axialen (magnetischen) Vektors. Die Flussrichtung ändert sich, der Magnet polt sich um. Seine symbolische Darstellung aber bleibt die gleiche!

Mischt man die beiden Vektoren, wie bei der Berechnung der Lorenzkraft durch das sogenannte äußere Produkt, dann kommen die Physiker in Teufels Küche. Denn einem Vektor sieht man von seiner mathematischen Darstellung her nicht an, ob er echt oder pseudo ist. Und das gibt Probleme – doch die Physiker merken es nicht einmal.

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