Die tragische Geschichte vom fehlenden Glied

Diese Episode aus der Wissenschaftsgeschichte zeigt exemplarisch, wie das Konzept der Symmetrie (oft gleichbedeutend mit „Harmonie“) einen Physiker (Albert Einstein) in eine Sackgasse treibt, während ein Mathematiker (David Hilbert) unbeeindruckt davon seine Berechnungen nach höheren Prinzipien durchführt und Symmetrien höchstens als Hilfsmittel betrachtet, nicht als Endziel. – Schauen Sie sich die beiden Formel an:


(1) A = B
(2) A + x = B


Welche gefällt Ihnen besser? Jeder Physiker würde sagen: Formel (1), denn was soll das blöde x in Formel (2), egal, was es bedeutet? Genauso dachte Einstein, mit fatalen Folgen. Sein Ziel war es seit Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie (1905), eine allgemeine Theorie der Welt aufzustellen, in der die Wirklichkeit mit Hilfe der Krümmung des Raums beschrieben werden sollte, also als Formel:


Mathematik = Physik, oder etwas konkreter:
Raumkrümmung = Materie + Energie


Das Konzept war nicht neu. Schon in den 1870er Jahren hatte es William Kingdon, der Übersetzer der Riemannschen Werke, als Ziel vorgeschlagen. Anfang des 20. Jahrhunderts stellte dann Heinrich Hertz die erste Formel in diesem Zusammenhang auf, eine Bewegungsgleichung entlang von „Geodätischen“, das sind kürzeste Verbindungslinien in gekrümmten Räumen. Einstein hatte sich die mathematische Disziplin angeeignet, die zur Beschreibung gekrümmter Räume diente, die Tensorrechnung, damals auch „Ricci-Kalkül“ genannt.
In diesem Kalkül gibt es eine Größe Rik, den Krümmungs- oder Riccitensor, der die Raumkrümmung in jedem Punkt beschreibt. Damit hätten wir die linke Seite. Auf der rechten Seite dachte sich Einstein einen Tensor aus, der alles physikalisch Bedeutungsvolle enthält (Massen, Energien, Potentiale). Er nannte ihn „Energie-Impuls-Tensor“ und bezeichnet ihn mit Tik. Und so fand er eine Formel, die in allereinfachster Schreibweise so aussieht:
Rik = kTik
k ist eine Konstante zur Umrechnung mathematischer Einheiten in physikalische. Diese Formel entspricht genau Einsteins Programm – bloß, sie war falsch, was sich dann zeigte, wenn er sie in ein anderes (beliebiges) Koordinatensystem übertragen wollte. Auch sein Mathematikerfreund Marcel Großmann konnte ihm nicht helfen. Dabei arbeiteten die beiden jetzt schon beinahe 10 Jahre an dem Problem!
Verzweifelt fuhr Einstein 1915 nach Göttingen, der Hauptstadt der mathematischen Physik, und hielt dort einen Vortrag über seine Pläne und Probleme. Hilbert, einer der größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts und immer stark an Grundlagenfragen der Physik interessiert, hörte aufmerksam zu, setzte sich danach an seinen Schreibtisch und hatte – mit Hilfe eines von ihm verfeinerten mathematischen Verfahrens – in kürzester Zeit die korrekte Formel. Die sah so aus:


Rik – ½gikR = kTik


also genau die Form der Formel (2) von oben. Aber was sollte das Zusatzglied? Es lieferte ja nicht einmal zusätzliche Informationen. R ist die Gesamtkrümmung des Raums, also eine Art Mittelwert über die Rik, mithin nichts wirklich Neues. gik ist die sogenannte Metrik des Raums, die man braucht, um Entfernungen zu messen oder von einem Koordinatensystem in ein anderes überzugehen.
Im nachhinein wird klar, wozu das Zusatzglied (das man keinesfalls erraten konnte) diente: Einstein setzte voraus, dass seine Formeln in allen Koordinatensystemen gelten, und zur Koordinatentransformation braucht man eben die Metrik. Dass sie in dieser Form auftritt, konnte, wie gesagt, niemand erraten. Für Hilbert war das kein Problem gewesen: Die Gesamtformel ergab sich automatisch beim Berechnen, die Asymmetrie der Seiten störte ihn nicht.
Hilbert hatte Einsteins Programm gerettet, doch letzterer zeigte sich keineswegs dankbar. Wütend übernahm er das fehlende Glied und beschuldigte in einem Brief an einen Freund sogar Hilbert, von ihm, Einstein, abgeschrieben zu haben! Dennoch anerkannte auch Hilbert Einsteins jahrzehntelange Bemühung um eine Art „Weltformel“, und darum heißt die obige Formel auch „Einsteinsche Feldgleichung der Gravitation“. Die zugehörige Theorie ist unter dem Namen „Allgemeine Relativitätstheorie“ in die Geschichte eingegangen.

Abstraktion oder Intuition? Mathematiker stützen sch auf erstere, Physiker sind Meister im letzteren. Aber manchmal landen sie mit reiner Intuition in einer Sackgasse.

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