Mathematik ist die einzige unendliche menschliche Aktivität. Man kann sich vorstellen, dass der Mensch eines Tages alles über Physik oder Biologie weiß. Doch der Mensch wird niemals alles über Mathematik wissen, denn das Thema selbst ist unendlich. Die Zahlen selbst sind unendlich.
Paul Erdös, nomadisierender Mathematiker
Es wäre alles ordentlich und übersichtlich geblieben, hätte Cantor nicht der Hafer gestochen. Immerhin hatte er gezeigt, dass man von den abzählbaren Mengen zu überabzählbaren kommt, dass es also im Unendlichen Stufen der Unendlichkeit im Bereich der Kardinalzahlen gibt:
Stufe 0: aleph-null
Stufe 1: 2^aleph-null = c (die Mächtigkeit des Kontinuums)
Stufe 2: 2^c (die Mächtigkeit der Menge aller Funktionen, also aller Punktepaare), usw.
Aber das reichte ihm nicht. Er wollte das, was es im Endlichen auch gibt, nämlich einen Nachfolger. aleph-null +1 ist natürlich kein Nachfolger, und c ist nicht unbedingt der Nachfolger von aleph-null; es könnte ja zwischen aleph-null und c noch andere, kleinere Unendlichkeiten geben. Zumindest im Endlichen ist es so: Der Nachfolger von 5 ist nicht etwa 2^5, also 32, sondern 6! Die Untermengenbildung führt zu ziemlich hohen Zahlen. Was aber folgt auf aleph-null ? Natürlich aleph-eins, aber was heißt das? aleph-eins ist einfach die nächste unendlich große Zahl größer als aleph-null. Als ob uns das viel weiterhilft!
Eine abstrakte Definition hat Cantor gegeben: Betrachten wir alle abzählbaren unendlich großen Ordinalzahlen {ω, ε0,…}, dann ergibt sich eine Menge, deren Mächtigkeit gleich aleph-eins ist. Kann man sich so etwas vorstellen, die Menge aller (konstruierbaren) Ordinalzahlen? Ist das nicht schon die größte aller Mengen? Nein, jetzt fangen wir erst richtig an und gehen über das Konzept „abzählbar“ hinaus.
Bisher haben wir alle Zahlen irgendwie erzeugt, konstruiert, durch anschauliches Schlussfolgern gefunden. Damit ist jetzt Schluss. Die Stufenfolge des Unendlichen mit Hilfe der alephs verlässt jegliches Vorstellungsvermögen. aleph-eins wird definiert, und deswegen muss es existieren. Es gibt verschiedene Definitionen, aber alle sind unanschaulich. Bis auf die mit einer Eigenschaft, die einigen Zahlen zukommt und die wir als schwer erreichbar bezeichnen wollen.
Eine Zahl ist dann schwer erreichbar, wenn sie „von unten“ nicht erreicht werden kann. ω z.B. kann von unten nicht erreicht werden, nur durch einen Sprung der Höhe ω von einer beliebigen endlichen Zahl aus. Also eigentlich kann es ω gar nicht geben, denn zu seiner Definition brauchen wir die Zahl selbst!
Mathematisch etwas genauer sagen wir: Eine Zahl x ist leicht erreichbar, wenn sie mit weniger als x Zahlen konstruiert werden kann, und außerdem jede Zahl kleiner als x ist. Wenn dieses Kriterium nicht zutrifft, ist die Zahl schwer erreichbar. Beispiel:
3 = 1 + 2
3 ist leicht erreichbar, denn es setzt sich zusammen aus zwei Summanden, beide kleiner als 3. Nicht zulässig wäre allerdings diese Darstellung:
3 = 1 + 1 + 1
Hier sind zwar alle Summanden kleiner als drei, ihre Anzahl aber ist drei, und diese Zahl existiert ja noch nicht!
Es gibt zwei endliche Zahlen, die beide schwer erreichbar sind: 1 und 2. Klar: Die Eins kann aus der Null auf keine Weise erzeugt werden. Aber die Zwei? Es gibt nur eine Möglichkeit, die Zwei zu erzeugen:
2 = 1 + 1
Nun sind zwar die beiden Summanden kleiner als 2, ihre Anzahl aber ist gleich 2, und diese Zahl existiert ja noch nicht!
Felix Hausdorff, der Schüler Cantors, verwendete andere Ausdrücke dafür: schwer erreichbar war für ihn „regulär“, leicht erreichbar „singulär“. Weil die Bedeutung der Begriffe eigentlich genau umgekehrt ist, bleiben wir bei unserer Bezeichnung. Wenn eine Zahl regulär ist, heißt das in der Mathematik schlicht und verständlich: Sie ist gleich ihrer Ko(n)finalität!
Im Übrigen sind die Bezüge zur Theologie erstaunlich: Die „1“ ist sicherlich noch viel schwerer zu erreichen als die „2“, aber beide sind schwer erreichbar. Dass Gott aus dem Nichts die Welt schuf (aus 0 mach 1), können wir verstehen. Aber wozu musste er auch noch Eva erschaffen (aus 1 mach 2)? Weil eben auch die 2 schwer erreichbar ist und eines schöpferischen Aktes bedarf!
Und so kommen wir zu aleph-eins: Es ist die erste schwer erreichbare Zahl nach aleph-null. Zur Definition von aleph-eins braucht man also aleph-eins selbst. Nicht sehr hilfreich, aber so sind die Mathematiker. Und jetzt können wir die Nahfolgerfunktion auch im Bereich der unendlichen Kardinalzahlen anwenden:
NFL(aleph-null) = aleph-eins; NFL(aleph-eins) = aleph-zwei; usw.,
und LIM(NFL(aleph-n) = aleph-omega = aleph-aleph-null
Bleibt die Frage, ob auch c schwer erreichbar ist oder nicht. Die Frage ist bis heute ungelöst!
Cantor, der ewige Spekulant, dachte, die Anzahl der Atome im Universum sei aleph-null, die der Äther-Atome dagegen aleph-eins. Heute gehen wir von einem endlichen Universum aus, und den Äther gibt es schon lange nicht mehr.
Paul Erdös, der Mathematiker des Eingangszitats, war ein bedeutender Zahlentheoretiker, der auch (nach ihm benannte) unendlich große Zahlen schuf. Weil er als Jude nicht mehr nach Ungarn zurückkehren konnte und ihm als „Linker“ die erneute Einreise in die USA verweigert wurde, begann er ein nomadisches Leben. Nur von seinem Koffer begleitet tauchte er bei Kollegen mitten in der Nacht auf und begrüßte sie mit den Worten „Mein Geist ist offen.“ Sein Koffer ist im jüdischen Museum in Berlin zu besichtigen, sozusagen eine Reliquie der Mathematik. Erdös trank Unmengen von Kaffe, und sein berühmtester Ausspruch lautet: Ein Mathematiker ist eine Maschine zur Transformierung von Kaffee in mathematische Theoreme.
Noch eine Anekdote zu ihm: Weil Erdös durch den unmäßigen Genuss von Kaffee und Amphetaminen seine Gesundheit zu ruinieren drohte, bat ihn ein Freund, wenigstens einmal einen Monat lang auf diese Aufputschmittel zu verzichten. Erdös tat es, und nach einem Monat sagte der Freund zu ihm: Siehst du, es geht doch. Ja, meinte Erdös, aber der mathematische Fortschritt wurde dadurch für einen ganzen Monat aufgehalten!