Von der null zur eins

In der Tat hat ja alles, was man erkennen kann, Zahl. Denn es ist nicht möglich, irgendetwas mit den Gedanken zu erfassen oder zu erkennen ohne diese.

Philolaos aus Kroton

Was ist die Grundlage der Mathematik? Für die alten Griechen war es die Geometrie, die Lehre von den Figuren, die man im Sand zeichnen kann. Für die Babylonier war es die Arithmetik, die Lehre von den Zahlen und ihren Manipulationen. Zahlen sind viel abstrakter als Figuren. Sie können auf verschiedene Weise dargestellt werden, und man kommt mit ihnen ganz natürlich ins Unendliche – da, wo wir hin wollen. Aber womit beginnen wir?
Ein umfangreiches Buch über die Entwicklung der Zahlensysteme im Verlauf der Erdgeschichte hat den bezeichnenden Titel „Von der Eins zur Null“. Denn die „Null“ (0), mit der wir in der Mathematik üblicherweise zu zählen beginnen, bereitete enorme geistige Schwierigkeiten. Wie kann man mit etwas rechnen, das nicht existiert? Die alten Inder verwendeten sie; die Abendländer verboten sie. Aber sie setzte sich durch und machte unser Stellensystem für Zahlen überhaupt erst möglich.
Weil wir hier Mathematik betreiben, fangen wir bei der Null an, wie alle Mathematiker. Das kann gefährlich werden, wie folgende Anekdote des polnischen Mathematikers Waclaw Sierpinski zeigt: Auf einer Reise geriet er plötzlich in Panik, weil er ein Gepäckstück vergessen zu haben glaubte. „Aber Liebling“ beruhigte ihn seine Frau, „alle sechs Koffer sind da.“ „Das kann nicht sein“ entgegnete der Gemahl, „ich habe zweimal nachgezählt: null, eins, zwei, drei, vier, fünf.“
Das kommt davon, wenn man zu kompliziert denkt – wiewohl Mathematiker auch beim Abzählen tatsächlich mit der Null beginnen. Und der Übergang zur „1“ ist wirklich schwierig, denn es ist ein Übergang vom Nichts zum Etwas, vom Chaos zur Schöpfung. Ein solcher Übergang war in früheren Zeiten den Göttern vorbehalten; heute machen das Mathematiker. Dennoch ist die Eins eine ganz besondere Zahl, wie wir später noch sehen werden: Sie ist schwer erreichbar, sie kann nur durch eine Schöpfung des Geistes erzeugt werden, es gibt keinen Prozess, bei dem sie irgendwie erschaffen werden kann. Der mathematische Abstand zwischen 0 und 1 ist zwar gering (nämlich 1), der geistige Abstand dagegen unendlich. Denn aus Nichts entsteht Nichts. So müssen wir denn unsere Zahlenfolge mit der Eins beginnen, die wir – zusammen mit der Null – als gegeben ansehen. Und damit fangen wir im nächsten Kapitel an.

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