Von der eins zu n

Am Anfang ist das Zeichen

David Hilbert

Wie kommen wir ins Unendliche? Wir fangen klein an, ganz klein, mit unseren Zahlen. In meiner Jugend las ich ein Buch von Alexander Niklitschek mit dem Titel „1, 2, 3 … Unendlichkeit“. Der Titel beschreibt ganz genau unseren Weg ins Unendliche: Von der 1 zur 2, von der 2 zur 3, von der 3 zu n (ein Symbol für eine nicht näher benannte Zahl), und irgendwann kommt dann der Große Sprung. Aber das hat noch Zeit.
Weil wir Mathematik betreiben, sollten wir zweierlei beachten: Erstens muss alles exakt sein, was auch bedeutet, dass wir ganz von vorne anfangen und nichts voraussetzen, außer das, was wir explizit beschreiben oder definieren. Und zweitens sollten wir auch ein paar Symbole verwenden, denn die vereinfachen das Denken.
Also gut: Was ist das Einfachste? Die Zahl 1. Und wie kommen wir weiter? Durch zählen, genauer gesagt: durch weiterzählen. So gelangen wir von der 1 zur 2, von der 2 zur 3, … , von n zu n+1, usw. Diese Fähigkeit des Weiterzählens ist dem Menschen vorbehalten; sie ist eine seiner großen Erfindungen. Zwar können auch Krähen und andere Tiere entscheiden, ob eine Menge 5 oder 6 Dinge enthält. Aber bei dieser Zahl ist’s dann zu Ende. Denn die klugen Vögel zählen nicht, sie sehen nur Muster. Und ab 6 (höchstens 7) Elementen werden diese Mengen nicht mehr unterscheidbar. Wir aber können von jeder beliebigen Zahl auf die nächste schließen. Dazu haben wir Notationssysteme entwickelt und auch Namen. Nicht alle Systeme sind gleich gut, aber alle sind irgendwie brauchbar.
Jetzt benötigen wir zweierlei: Erstens ein Symbol für Zahlen; und zweitens ein Symbol für den Prozess des Weiterzählens. Denn der unterscheidet sich vom Ergebnis. Prozess (Operation, Funktion): Zähle von der Zahl 17 um 1 weiter. Wir nennen diesen Prozess auch: den Nachfolger bestimmen. Ergebnis: 18. Die 18 ist der Nachfolger der 17.
Zahlen kennzeichnen wir so, wie es auch die Urmenschen taten. Sie ritzten Kerben in Hölzer oder Knochen. Für uns ist es aber einfacher, Stäbchen hinzulegen oder wegzunehmen. Denn letzteres wird mit eingeritzten Kerben schwieriger.
Die Zahl „1“ sieht dann so aus: I ;
die „5“ so: IIIII; die Zahl n schreiben wir dann so: I…I

Diese Schreibweise kennen wir von den alten Römern. Für die galt:
1 = I, 2 = II, 3 = III, 4 = IIII
aber damit war Schluss, weil die Sache sonst zu unübersichtlich wird. Der britische Mathematiker und Computer-Experte Alan Turing (1912 – 1954) verwendete die gleiche Schreibweise bei der Beschreibung seiner Universal-Automaten: Auf ein endloses Band kann die Maschine eine „I“ schreiben oder dieses Symbol wieder ausradieren.

Den Prozess des Weiterzählens kennzeichnen wir ganz einfach dadurch, dass wir rechts noch ein Stäbchen dazulegen. Um zu zeigen, dass hier etwas Neues dazukommt, schreiben wir dieses Stäbchen in fett. Der Übergang von n zu n+1 (symbolisiert durch den Pfeil) sieht also dann so aus:
I…I –> I…II
Auch für den Prozess des Weiterzählens, also für die Nachfolger-Operation, brauchen wir noch ein Symbol. Dafür haben sich die Mathematiker zwei Schreibweisen ausgedacht. Die erste setzt neben die Zahl einfach einen Strich: n‘ („n-Strich“) ist der Nachfolger von n. Der ‚ bedeutet also sowohl den Prozess als auch das Ergebnis. Die zweite Schreibweise lehnt sich an die Schreibweise von Funktionen an. Das sieht dann so aus:

NACHFOLGER(x) = NFL(x) –> x‘

Gelesen: Die Anwendung der Funktion „Nachfolger“ (abgekürzt: NFL) auf eine Zahl x liefert die Nachfolgezahl x‘.
Mit einer solchen Schreibweise können wir schon einige andere wichtige Operationen durchführen und einfach darstellen. So kann ich ja auch die übernächste Zahl suchen, das wäre dann x“ („x-zwei-Strich“). Mit der Funktionendarstellung sähe das dann so aus:

NFL(NFL(x)) = NFL²(x) –> x“

Ausgesprochen: „NFL hoch 2“ oder „NFL-Quadrat“ oder „NFL, zweimal angewandt“. Der Vorteil dieser Darstellung: Statt der „2“ können wir wieder eine allgemeine Zahl einsetzen, sagen wir k, und das sieht dann so aus:

NFL^k(x) („NFL hoch k, k-ter Nachfolger von x“)

ist also der k-te Nachfolger von x – und das ist nichts anderes als x+k.
Wieso haben wir nicht gleich mit „+“ und „-“ gearbeitet? Weil wir diese Operationen noch nicht kennen. Die werden wir im nächsten Kapitel einführen. Bisher gibt es nur das Weiterzählen und die ganzen Zahlen, genauer: die positiven ganzen oder natürlichen Zahlen, das sind die Zahlen 1,2,3,…
Jetzt machen wir uns ein paar allgemeine Gedanken. Die erste Frage lautet: Wieviele Zahlen können wir auf diese Weise erzeugen? Unendlich viele? Leider nein, es sind nur beliebig viele, und das ist nicht unendlich. Zwar können wir zu jeder noch so großen Zahl eine größere finden, aber das führt uns noch nicht in die Unendlichkeit. Um das Unendliche echt zu fassen, brauchen wir mehr.
Gibt es zu jeder Zahl einen Nachfolger? Ja, denn Stäbchen zeichnen kostet nichts. Das Gegenteil des Nachfolgers ist der Vorgänger, das ist jene Zahl, die man erhält, wenn man ein Stäbchen wegnimmt. Gibt es zu jeder Zahl einen Vorgänger? Nein, denn bei der „I“ können wir noch ein Stäbchen wegnehmen, dann kommen wir zur Null. Aber von der können wir nichts mehr wegnehmen, denn es liegt ja nichts mehr da. Also haben wir schon zwei Erkenntnisse:
(1) Jede Zahl hat einen Nachfolger.
(2) Nicht jede Zahl hat einen Vorgänger.
Was ziemlich banal klingt, wird im Unendlichen spannend: Gelten diese Gesetze dort auch noch? Wenn ja, was heißt das? Wenn nein, warum nicht?
Der Aufbau der Zahlen ist ein Musterbeispiel für die Vorgehensweise der Mathematik. Darum ist es auch so wichtig, diesen Prozess in allen Einzelheiten darzustellen und zu verstehen. Als nächstes werden wir versuchen, allein mit diesen Symbolen und Erkenntnissen die üblichen mathematischen Operationen zu definieren. Dabei beschränken wir uns auf die „aufbauenden“ Funktionen Addition, Multiplikation und Exponentiation, denn die liefern immer größere Zahlen – und wir wollen hoch hinaus!

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