Die Mathematik kommt durch Konstruktionen vorwärts, sie konstruiert immer verwickeltere Kombinationen. Damit eine Konstruktion jedoch nützlich sein kann, damit sie nicht nur eine überflüssige Anstrengung des Verstandes darstellt, damit sie jedem als Sprungbrett dienen kann, der sich höher erheben will, muss sie vor allem eine Eigenart besitzen, die es erlaubt, in ihr etwas anderes zu erkennen als eine bloße Anhäufung von Elementen. Genauer gesagt: Man muss den Vorteil darin erkennen, dass man lieber die Konstruktion als die einzelnen Elemente betrachtet.
Henri Poincaré
Brauchen wir die Mengenlehre in dieser Form, also die Lehre von den wirklich großen unendlichen Kardinalzahlen? Die Frage stellt sich dem Mathematiker nicht, da dieser nach der Erkenntnis an sich strebt. Dennoch kann man fragen, welche Auswirkungen die Erkenntnisse von großen Kardinalzahlen auf den Rest der Mathematik hatten. Die Antwort ist einfach: keine.
Der Mathematiker Arnon Avron von der Tel-Aviv-Universität (Israel) meint dazu: Ich glaube nicht, dass irgendein „Kern“-Mathematiker irgendwann auch nur implizit große Kardinalzahlen benutzt hat. Ich glaube auch nicht, dass dies jemals der Fall sein wird. Ich sehe auch nicht, dass Aussagen über große Kardinalzahlen sinnvoll sind – geschweige denn wahr.
Der Logiker und Forscher auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, John F. Sowa von der University of Maryland, meint dazu: Nichts in der Analysis (= Differenzial- und Integralrechnung) hängt in irgendeiner Weise von Cantors Diagonalbeweis ab.
Selbst in der Mengenlehre braucht man keine überabzählbaren Mengen. Das berühmte Theorem von Löwenheim und Skolem aus den Jahren 1915 und 1920 besagt nämlich, dass jede beliebig große Kardinalzahl durch ein System von Aussagen beschrieben werden kann, in dem nur abzählbar viele Worte vorkommen. Skolem hat das Resultat als „paradox“ bezeichnet, daher rührt der Ausdruck „Skolem-Paradox“. Das Paradoxe besteht darin, dass sich in der gewöhnlichen Mengenlehre die Existenz von überabzählbar großen Mengen beweisen lässt. Doch nach dem Theorem von Löwenheim und Skolem werden nur abzählbar viele Individuen gebraucht. Mit anderen Worten: Die ganzen Zahlen genügen! Wozu dann der riesige Aufwand?
Einer der besten Kenner (und Erforscher) der Theorie des Unendlichen, Kurt Gödel, äußerte eine andere Kritik: Man kann Zahlen nicht auf Strecken übertragen, womit die ganze Diskussion um die Mächtigkeit des Kontinuums überflüssig wird. Denn wollte man die Strecke zwischen 0 und 1 – das „Einheitsintervall“ – in zwei genau gleich große Teile teilen, dann bekäme man Schwierigkeiten mit dem Mittelpunkt x = 0,5. Welchem Teilintervall ordnen wir ihn zu? So oder so, ein Intervall hat einen Punkt mehr; dabei wollten wir das Intervall doch exakt zweiteilen!
Erstaunlich: Der Schriftsteller Jorge Luis Borges hat das Problem bereits in seiner Kurzgeschichte „Die Bibliothek von Babel“ angesprochen: „Die ungeheure Bibliothek ist überflüssig; strenggenommen würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl unendlich dünner Blätter bestände. Die Handhabung dieses seidendünnen Vademecum wäre nicht einfach; jedes anscheinende Einzelblatt würde sich in andere gleichgeartete zweiteilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte hätte keine Rückseite.„
Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce fand eine Lösung, zumindest für das Punkte-Intervall: Punkte entstehen durch das Schneiden von Geraden. Damit wird aber die ganze Diskussion über große Kardinalzahlen überflüssig, da sie sich zum Großteil auf überabzählbare Punktmengen stützen. Und die gibt es dann nicht mehr.
Eine weitere Kritik an den so genannten „großen“ Kardinalzahlen (das sind Zahlen, die durch die Axiome der Mengenlehre nicht erfasst werden) liegt darin, dass man in Schwierigkeiten gerät, wenn man ihre Größen vergleicht. Es gibt nämlich zwei Vergleichskriterien: die Größe, und die Ableitbarkeit (Implikation). Man sagt, eine Zahl A impliziere die Zahl B, geschrieben als A -> B, wenn aus der Widerspruchsfreiheit der Definition von A die Widerspruchsfreiheit der Definition von B folgt. Dann gilt auch, dass A umfassender ist als B, also auch größer: A -> B => A > B („Aus ‚A impliziert B‘ folgt ‚A größer als B'“) Doch das ist ab einer gewissen Zahlengröße nicht mehr der Fall. Der Mathematiker David Libert von der Carleton Universität in Ottawa (Kanada) weist darauf hin, dass „riesige“ Zahlen „superkompakte“ Zahlen implizieren, also auch größer sein müssten als diese. Es gibt aber Fälle, wo eine „superkompakte“ Zahl größer ist als eine „riesige“. Hier klafft eine begriffliche Lücke, die bisher niemand geschlossen hat.
Doch die härteste Kritik an der Jagd nach immer mächtigeren Mengen kam von einem Zeitzeugen. Henri Poincaré war einer der bedeutendsten Mathematiker und Physiker um 1900. Er schuf eigenhändig die Disziplin der algebraischen Topologie und der Chaostheorie. Er fand die Formeln der (speziellen) Relativitätstheorie einige Jahre vor Einstein und machte sich Gedanken über mathematische und physikalische Probleme.
Die Definition durch Eigenschaften beurteilt er so: Man kann die Macht bewundern, die in einem Worte ruhen kann. Man denkt sich einen Gegenstand, von dem man nichts aussagen kann, so lange er keine Benennung erhalten hat. Es genügt, ihm einen Namen zu verleihen, damit er Wunder wirkt. Er bedauert: Die Cantorschen Antinomien (= Widersprüche) wirkten aber nicht entmutigend auf die Vertreter der betreffenden Methode; letztere bemühten sch vielmehr, ihre Regeln so abzuändern, dass sie bereits aufgetauchte Widersprüche verschwinden ließen, ohne indessen sicher zu sein, ob sich nicht neue Widersprüche ergeben würden. Und schließlich ganz lapidar: Das aktual Unendliche gibt es nicht; das haben die Cantorianer vergessen, und deshalb gerieten sie in Widersprüche.
Um zum Anfang zurück zu kommen: Cantors Diagonalargument ist vielleicht nur ein gedanklicher Trick. Stellen wir uns vor, wir hätten eine Tüte (für meine österreichischen Leser: a Sackal), in die genau 100 Würfel einer bestimmten Größe passen. Wir probieren es aus: Es stimmt. Jetzt fragen wir, ob wir anstelle eines Würfels nicht die Tüte selbst in sich hineinpacken können. Auch das ist möglich: Wir falten die Tüte, bis sie so klein ist wie ein Würfel. Aber jetzt wird’s haarig: Damit das möglich ist, müssen wir den ganzen Inhalt erst rausschmeißen, sonst können wird die Tüte nicht falten.
Das Hineinstecken der Tüte in sich selbst wäre vergleichbar einer Selbstreferenz. Der Dorfbarbier, der sich selbst rasiert (oder auch nicht), kommt erst später dazu. Erst mal werden alle männlichen Dorfbewohner in zwei Gruppen eingeteilt, und dabei gibt es keine Probleme. Erst wenn man den Oberbegriff – die Tüte – dazu nimmt, kommen wir in Schwierigkeiten, weil wir nämlich plötzlich unsere eigenen Regeln brechen. Und damit geraten wir in all die Schwierigkeiten, die der Mengenlehre immer noch anhaften, auch wenn sie diese konsequent ignoriert.