Von θ zu ρ („Von theta zu rho“)

Ursprung aller Dinge ist das Unendliche.

Anaximander (610 – 546 v.Chr.)

Mit θ ist Schluss mit „normal“. Die alephs können aus den Axiomen der Mengenlehre abgeleitet werden; alle anderen, größeren Zahlen nicht. Deswegen heißen alle Zahlen, die wir jetzt erwähnen, Große Kardinalzahlen, auch wenn der Ausdruck „groß“ hier unendlich untertrieben ist.
Alle weiteren Zahlen ergeben sich durch Definitionen, die hoch kompliziert sind und eine gründliche Kenntnis der Mengenlehre voraussetzen. Dennoch wollen wir wenigstens die nächste Zahlenklasse, die unerreichbaren Zahlen, konstruktiv erfassen, auch wenn alle mathematisch gebildeten Personen dabei entsetzt aufstöhnen werden. Aber wenigstens erhalten wir so eine Ahnung davon, was Cantors Schüler Felix Hausdorff (1868 – 1942) sich dabei gedacht hat, als er das Konzept 1908 entwickelte. (Stoßen Sie sich nicht daran, dass die Bezeichnungen in der Literatur nicht einheitlich sind.)
Erst stellen wir uns die Frage: Wozu eigentlich? Mit den alephs kommen wir bis Ω, also bis ans denkbare Ende. Stimmt, aber die alephs sind so groß wie Sandkörner im Vergleich zum Ozean, und den Ozean mit Sandkörnern zu vermessen ist etwas frustrierend – vom Weltall bis zum Rand des Universums ganz zu schweigen. Deswegen suchen die Mathematiker nach neuen Maßstäben. Also: Vom Sandkorn zur nautischen Meile!
Dazu verwenden wir eine Methode, die wir bei der Verallgemeinerung der arithmetischen Operationen erfolgreich eingesetzt haben: Wir verallgemeinern die Limes-Bildung. Wir setzen:
LIM0 = Nachfolger
LIM1 = üblicher Limes, also Übergang zur nächsten unendlich großen Zahl. Da wir uns mit Ordinalzahlen gar nicht mehr aufhalten, beziehen wir die Nachfolge-Funktion auf die alephs, sodass gilt:
LIM0 (aleph-0) = aleph-1, und LIM1 (aleph-0) = aleph-ω (= aleph-aleph-0)
Und jetzt geht’s los: LIM2 führt über alle Zahlen hinaus, die mit LIM1 erreichbar sind, also über alle alephs hinweg. Manche nennen diese Zahl θ, und dem wollen wir folgen. Es gilt also
LIM2 (aleph-N) = θ (mit beliebig großem N)
Aber was heißt das? Es bedeutet, dass wir einen Sprung vom Sandkorn zu einer Sandburg machen, an der wir völlig neue Strukturen entdecken. Diese Sandburg nennen wir θ0, sie ist die erste unerreichbare Zahl. Wenden wir LIM2 auf θ0 an, erhalten wir die nächste unerreichbare Zahl, die nach mathematischer Terminologie „hyper-unerreichbar“ heißt, genauer: hyper-1-unerreichbar (die normale Unerreichbarkeit heißt dann hyper-0-unerreichbar). Zwischen θ0 und θ1 liegen unermesslich große Abgründe: Alle alephs füllen die Lücke. Von θ1 kommen wir auf die übliche Weise zu θ2, θ3, … θaleph-0 … und ganz ganz weit in der Ferne dann zu θθ.
So langsam haben wir alle Küsten mit Sandburgen zugebaut, jetzt wagen wir uns aufs große Meer: LIM3 führt über alles hinaus, was wir bisher erreichten. Und so geht es mit den Limes-Bildungen voran, bis LIMaleph-0. Aber das ist immer noch erst der Anfang! Denn als Indizes der LIMes können wir natürlich jede Zahl einsetzen, die wir bisher erzeugt haben, also auch unerreichbare Zahlen, hyper-unerreichbare Zahlen, hyper-hyper-unerreichbare Zahlen usw. Und auch hier können wir den größten denkbaren Sprung wagen und behaupten:


LIMk (θx) = k


Womit wir vielleicht schon alle Ozeane der Erde mit Sandburgen zugebaut haben – aber etwas Neues finden wir auf diese Weise nicht!
Also hat sich Paul Mahlo 1912 Gedanken gemacht, wie man die Ozeane der Erde verlassen und die unendlichen Weiten des Weltalls angemessen vermessen kann. Die Zahlen, die er sich ausdachte, stützen sich in ihrer Definition auf das Unerreichbarkeitskriterium, gehen aber darüber hinaus – wie, das wird zu kompliziert. Jedenfalls wurden diese neuen Zahlen nach ihm benannt (Mahlo-Zahlen), und er benannte sie mit dem Buchstaben ρ („rho“). Alles, was wir bisher taten, wiederholt sich, aber in gigantisch größerem Maßstab.

Die wahre Definition der unerreichbaren Zahlen geht von den Begriffen „regulär“ (schwer erreichbar) und „singulär“ (leicht erreichbar) aus. Tatsächlich ist ein aleph mit unendlichem Index singulär, weil die Anzahl der Wege zu dieser Zahl kleiner ist als die Zahl selbst, auch wenn das schwer zu begreifen ist. So gilt aleph-1 als regulär (schwer erreichbar), aleph-ω dagegen als singulär (leicht erreichbar), weil die Anzahl der Schritte zu dieser Zahl kleiner ist als die Zahl selbst. aleph-ω ist eine Limes-Zahl, und Hausdorff fragte sich: Gibt es reguläre Limeszahlen? Durch Beantwortung dieser Frage kommt man zu den unerreichbaren Zahlen.

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