Teil IV: Rechnen Von Ω zu λ („Von Omega zu lambda“)

Die Mathematik ist mehr ein Tun als eine Lehre.

Luitzen Brouwer, Verfechter einer konstruktiven Mathematik

Es ist uns zwar nicht gelungen, die Mengenlehre, speziell: die Lehre von den transfiniten Kardinalzahlen, auf eine bestimmte Kulturtradition zurück zu führen. Dennoch hat die gesamte Tradition des Abendlands Einfluss auf alle geistigen und kulturellen Aktivitäten. Die Mengenlehre schwebt nicht in der Luft; sie hat ihre Wurzeln in einer besonderen sozialen und wirtschaftlichen Konstellation. Wie wir die herausfinden? Durch die Analyse der verwendeten Worte!
Der Hauptbegriff der Mengenlehre liegt in der Zugehörigkeit. In der Mengenlehre gibt es im Prinzip nur zwei Zeichen, ε („ist Element von“) und ≤ („ist Teil von“). Beide bestimmen, ob etwas zu etwas anderem gehört oder nicht oder wenigstens Teil von etwas ist.
Ins Menschliche übertragen: Es ist außerordentlich wichtig, ob jemand Mitglied einer bestimmten Gesellschaftsklasse ist oder nicht; ob ein Stück Land einem bestimmten Besitzer gehört oder nicht; ob die Erbschaftsverhältnisse geklärt sind oder nicht; ob eine Gruppe oder Klasse von Menschen sich gegen andere abgrenzen kann oder nicht; und schließlich: Wer größer ist (mehr Gewicht hat), oder gleich oder kleiner. Mit anderen Worten: die Mengenlehre repräsentiert den Feudalismus mit seinem Klassendenken sowie den Frühkapitalismus mit seinem Besitzdenken.
Viele seiner Elemente gibt es auch heute noch, vieles aus der Mengenlehre hat seine Entsprechungen in der Gesellschaft. Wer zu einer bestimmten Klasse gehörte, konnte diese nicht verlassen. Die Schwierigkeiten nahmen am Rand zu, wo besonders darauf geachtet wird, dass man mittels „Filtern“ oder gar „Ultrafiltern“ diejenigen herein lässt, die dazugehören, und die anderen ausschließt.
Auch ist unser Besitzdenken immer noch extrem ausgeprägt. Man denke an die Grenzstreitigkeiten und Erbschaftsprozesse. Dem Versuch, immer mächtigere Kardinalzahlen zu finden, entspricht in der Gesellschaft das unbegrenzte Streben nach Status, Besitz und Macht. Politiker mehren und sichern ihre Macht und sträuben sich dagegen, zurückzutreten. Immobiliengesellschaften vereinnahmen Haus um Haus, Büro um Büro, Gebäude um Gebäude. Mächtige Staaten nehmen kleinere in Besitz, große Firmen schlucken, was sie schlucken können, bis sie daran zerplatzen. Banach-Tarskis magische Kugel („Aus 1 mach 2“) hat ihre Entsprechung im Aktienmarkt, wo durch Finanzspekulationen auf wundersame Weise die vorhandenen Geldmengen vermehrt werden, ohne dass dem in der Realität irgendetwas entspricht. Der Wert ändert sich nicht wirklich, nur die Betrachtungsweise. Schließlich bricht dann das ganze System an seinen inneren Widersprüchen zusammen – wie die Mengenlehre zuletzt mit ihrer elementaren Einbettung. Oder ganz am Anfang mit ihren Mengen, die sich selbst enthalten. Passt das alles in ein Zeitalter der schnellen Berechenbarkeit und der aufgelösten Grenzen im Internet?
Aber, so der Einwand, das ist nun mal Mathematik, und wie sollte es anders gehen? Es geht anderes. Es gibt eine alternative mathematische Theorie, welche die gesamte Mathematik aus dem Begriff der Funktion und der Berechenbarkeit aufbaut – Ideen, die unserem Zeitalter der Computer bestens entsprechen. Es gibt sie in zwei einander äquivalenten Formen, den λ-Kalkül (Lambda-Kalkül) und die Theorie der Kombinatoren. Bei beiden geht es ums Rechnen bzw. Basteln, also um das Erzeugen komplexer Strukturen aus einfachen. Grundlage sind nicht fertig vorliegende Gegebenheiten, sondern erzeugte Strukturen; nicht unerfüllbare Forderungen nach guter Ordnung, sondern konkrete Verfahren zur Anordnung von Bausteinen; nicht undurchschaubare Hierarchien, sondern demokratisch gleichberechtigte Bausteine; nicht passive Elemente und nicht minder passive Zusammenfassungen ebendieser Elemente, sondern aktive Operatoren, die auch auf ihresgleichen wirken können, da es nur ein Element der Wirklichkeit gibt, eben Operatoren (Konstruktöre, Beweger, Veränderer, Funktionen).
Der λ-Kalkül (Alonzo Church 1940) beschäftigt sich mit den Abstraktionen bei der Bildung von Funktionen. Er wurde durch die Programmiersprache LISP in den 1960-er Jahren auch auf Computer übertragen – und alle, die LISP kennen, halten sie für die interessanteste und faszinierendste Programmiersprache. Mit ihr kann man Aufgaben der künstlichen Intelligenz am besten bewältigen: Sprachanalyse, komplexe Konstruktionen von Zeichenketten oder verzweigten Bäumen. Einer der Gründe für ihren Erfolg ist ihre begriffliche Einfachheit: Es gibt nur Listen. Ein anderer liegt darin, dass alle in LISP konstruierten Funktionen stets auch auf sich selbst angewandt werden können, dass LISP also weitgehend rekursiv (selbstbezüglich) ist.
LISP ähnlich (und noch einfacher als der λ-Kalkül) ist die Theorie der Kombinatoren (Moses Schönfinkel 1924, Haskell Brooks Curry ab 1929). In ihr gibt es nur Kombinatoren, runde Klammern zur Änderung der Priorität, und sonst nichts, also auch keine Abstraktionen. Kombinatoren verändern lineare Strukturen (Zeichenketten), und zwar in unserer Leserichtung, also von links nach rechts.

Kombinatoren ändern die Gruppierung und Reihenfolge von unspezifizierten Elementen

Z.B. vertauscht der Vertauscher C (von „change“ = ändern) zwei Argumente einer Funktion f: C fxy = fyx (= f(y,x) in konventioneller Schreibweise)
Der Kompositor B verknüpft zwei Elemente zu einer geschachtelten Funktion: B fgx = f(gx) (= f(g(x)) in konventioneller Schreibweise)
Der Synthetisator S macht das Gegenteil, er entmischt die Argumente zu zwei Funktionen: S fgx = fx(gx) (= f(x),g(x) in konventioneller Schreibweise)
Der Vernichter K („Kanzellator“, von „cancel“ = löschen; früher mit „C“ bezeichnet) löscht das zweite von zwei Elementen: K ab = a
Am interessantesten ist der Verdoppler W (vom englischen „W“ = „double-you“ = Doppel-V). Er verdoppelt das Argument einer Funktion: W fx = fxx (= f(x,x) in konventioneller Schreibweise)
Setzt man W = f, wendet also W auf sich selbst an, dann ergibt sich ein Ausdruck, der sich ständig wiederholt:
WWx = WWx = WWx = …
Hier taucht in der Theorie der Kombinatoren zum ersten Mal so etwas auf wie das Paradoxon vom lügenden Kreter oder vom rasierenden Dorfbarbier. Man könnte den obigen Ausdruck mit einem Programm mit Endlosschleife vergleichen:

1 PRINT „x“
2 GOTO 1
Wegen des Auftauchens des Unendlichen wird ein solcher Kombinator auch als Ω-Operator bezeichnet. W ist, wie man sagt, ein Fixpunkt von sich selbst. Fixpunkte haben wir bei der Konstruktion großer Zahlen schon öfter kennen gelernt. So war ε0 ein Fixpunkt bezüglich der Exponentiation, θ ein solcher bezüglich der Indexierung.
Anstatt sich vor dem unendlichen Einsetzungsprozess zu fürchten oder Paradoxien zu vermeiden, hat Curry etwas Konstruktives daraus gemacht: Mit Hilfe dieses Ausdrucks konnte er einen Kombinator Y konstruieren, den Fixpunktoperator, der aus jeder beliebigen Funktion (= Kombination von Kombinatoren) ihren speziellen Fixpunkt herauslöst. Das bedeutet: Y, angewandt auf eine Funktion f, ist das Gleiche wie f, angewandt auf Y f. Oder als Formel:
Y f = f(Y f)
kann so definiert werden:

Y := WS(BWB)

(für mich die magischste aller Formeln!).

Für Bastler: Wir bezeichnen mit a eine beliebige Funktion (= Operator, Kombinator), mit b kürzen wir den Ausdruck W(Ba) ab. Jetzt suchen wir den Fixpunkt von a, und der ist gleich bb, d.h., a, angewandt auf bb, ergibt wieder bb, oder als Formel: a(bb) = bb. Der Y-Operator macht’s möglich. Angewandt auf a holt er bb heraus (und dabei ist a völlig beliebig!):

Ya = WS(BWB)a =
(Verdopplung von BWB durch W) = S(BWB)(BWB)a =
(Trennung von BWB durch S) = BWBa(BWBa) =
(Verschachtelung von WB durch B) = W(Ba)(W(Ba)) =
(Einsetzen von b) = bb

also genau das, was wir behauptet haben.

Es ist wirklich verblüffend, dass ausgerechnet ein Operator ähnlich einer unendlichen Schleife in jedem anderen Operator einen Fixpunkt erzeugt. Wäre man philosophisch inkliniert (wie der Verfasser dieser Zeilen), dann könnte man ins Spintisieren verfallen (was der Verfasser dieser Zeilen nunmehr schamlos tut).
Der unruhige Mensch unserer Zeit sucht den Ruhepol in seinem Inneren, immer in der Hoffnung darauf, seinen persönlichen Fixpunkt zu entdecken. Auf dieser Suche begegnet er vielen Menschen, die das gleiche tun: Ständig rotieren sie gleichsam in sich, besitzen aber gerade dadurch die Möglichkeit, dem anderen wenigstens zeitweise zur inneren Ruhe zu verhelfen.
Der seelische Fixpunktoperator sieht dann so aus: Nimm die Dinge der Außenwelt in dich wie ein Wirbelsturm und transformiere sie, bis sie in den Mittelpunkt gezogen werden. Dadurch erhalten sie jene Stabilität, die sie immun gegen Veränderungen macht. Durch diese Festigkeit kannst du selbst dich wandeln. Den eigenen Fixpunkt aber findest du nur in dir selbst, nicht im anderen. Du kannst dich nirgends verankern. Deine Fähigkeit, dich und andere zu transformieren, ist das einzig Stabile in dir. Der Fixpunkt, den dir die Veränderung der anderen vorgaukelt, ist auf ewig unerreichbar. Nur das Ziel ist klar, der Weg dorthin dein Leben. Die Menschen deiner Umgebung können dir dabei helfen — oder du ihnen. Ihr seid ja keine statischen Inseln, sondern dynamische Veränderer.

Maturanas Echse (Bild rechts oben): Der Fixpunktoperator schafft einen Ruhepunkt aus sich selbst

Mit Hilfe der Kombinatoren ist es tatsächlich möglich, die gesamte Mathematik abzuleiten – aus nur zwei Grundkombinatoren, aus denen alle anderen zusammengesetzt werden können! Warum sich diese einfache, spielerische und widerspruchsfreie Theorie dann nicht durchgesetzt hat, dafür aber die komplizierte, undurchsichtige, von allerlei Widersprüchen geplagte Mengenlehre, das zu untersuchen wäre eine eigene Abhandlung wert. Die Mathematiker jedenfalls berufen sich auf den Fixpunktoperator als Ablehnungsgrund: Er produziere einen Widerspruch. Das tut er nicht, aber in der klassischen Logik gibt es ein kleines Problem. Auch die logische Verneinung (Negation) hätte einen Fixpunkt, was schwer vorstellbar ist oder zumindest eine Neu-Interpretation logischer Formeln erfordern würde. Das aber wollten die Mathematiker nicht, die das Sagen haben. Lieber jede Menge Widersprüche als eine Logik ohne Verneinung!

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