Zwischenspiel: Jüdische Mathematik?

Reine Mathematik ist Religion.

Novalis

Gibt es eine jüdische Mathematik? Dürfen wir so etwas überhaupt fragen? Sicher dürfen wir. Nur weil die Nazis den Ausdruck „Deutsche Physik“ missbrauchten, heißt das nicht, dass wir uns davon beeinflussen lassen. Schließlich gibt es bei allen Völkern, Nationen und Gesellschaften kulturelle Traditionen. Man schaue sich nur die Philosophen der Deutschen an, die sich radikal von denen der Angelsachsen unterscheiden. So könnte also auch eine kulturelle Tradition den Stil, Mathematik zu betreiben, in irgendeiner Weise beeinflussen.
Das zumindest glaubten drei Männer. Theodor Lessing, Ernst Cassirer und Felix Hausdorff machten sich in den Jahren um 1910 darüber Gedanken. Lessing war Pädagoge, Cassirer Kulturphilosoph und Hausdorff Mathematiker. Und alle drei waren sie Juden. Also könnte man annehmen, dass sie wussten, wovon sie redeten. Doch auch sie fielen auf verbreitete Klischees herein. So wurden Juden als heimatlos (also nicht in der Realität verwurzelt) und dem abstrakten Denken zugeneigt klassifiziert. Ihre Mathematik sei, negativ formuliert: formal und inhaltsleer; positiv formuliert: geistig frei und nicht an irgendwelche Realitäten gebunden. Da die Mengenlehre recht abstrakt und abgehoben ist und von dem Juden Cantor entwickelt worden war, folgert daraus, dass es eben eine typisch jüdische Mathematik gibt.
Abgesehen davon, dass die Mathematik an sich ebenso abstraktes wie kühnes Denken verlangt, völlig unabhängig vom Individuum, welches Mathematik betreibt, abgesehen davon krankt die Diskussion an einer winzigen, aber bedeutungsvollen Kleinigkeit: Cantor war gar kein Jude. Zwar setzt Eric Temple Bell („Men of Mathematics“) Cantors Judentum als ganz selbstverständlich voraus, während Ivor Grattan-Guiness („Towards a biography of Georg Cantor“) dies vehement ablehnt. Amir D. Aczel („Die Natur des Unendlichen“) bemüht sich sehr, die jüdische Abkunft Cantors nachzuweisen, während Herbert Mehrtens („Jüdische Mathematik?“ im Katalog „10 + 5 = Gott“ des Jüdischen Museums Berlin) schlüssig nachweist, dass nichts darauf hinweist. Also was ist jetzt?
Cantors Familie stammt aus Dänemark und flüchtete bei der Belagerung ihres Heimatlands durch die Engländer nach St. Petersburg, wo Georg auch geboren wurde. Danach zog die Familie nach Deutschland. Georgs Vater war protestantisch, seine Mutter katholisch, seine Gattin jüdisch. Was nur darauf hindeutet, dass die Familie in religiöser Hinsicht recht liberal war. Schließlich war es damals ausgesprochen mutig, als Katholik eine Ehe mit einer Protestantin einzugehen (oder umgekehrt).
Der Name Cantor heißt auf Deutsch: Sänger. Gesungen wird in allen Kirchen, katholisch, protestantisch oder jüdisch. Und dass sich Cantor in der Kabbala auskannte, sagt ebenfalls nichts. Auch Popstar Madonna ist Kabbala-Expertin, und diese Dame ist streng katholisch. Und was ist mit dem Brief, den Georgs Bruder 1869 mit Schreibmaschine an seine Eltern schrieb, wo er sich zu seiner jüdischen Vergangenheit bekannte? Auch da gibt eine Kleinigkeit zu denken: Schreibmaschinen mit Kleinbuchstaben existieren erst seit 1875!
Fazit: Mathematik ist Mathematik, unabhängig von kulturellen Traditionen. Es gibt ja auch keine chinesische oder malaische Mathematik. Alle Mathematiker halten sich an die gleichen Regeln. Da könnte man ja genauso gut fragen, ob das Sternzeichen einen Einfluss auf die mathematische Arbeit hat. Hat es auch: Cantor war im Zeichen Fische geboren, und dieses Zeichen steht für den unendlichen Ozean. Cantor beschäftigte sich sein ganzes Mathematikerleben lang mit dem Unendlichen. Erdös war im Zeichen Widder geboren, und diesem Zeichen sagt man nach, dass es unbekümmert und direkt an Probleme und Menschen herangeht, aber nicht gerne philosophische Systeme entwickelt. Genauso betrieb Erdös seine Mathematik. Und Gödel war im Zeichen Stier geboren, dem man nachsagt, dass es bedächtig vorgeht und sich nach allen Seiten hin absichert. Genauso sieht Gödels Mathematik aus. Eine wackelige Hypothese, drei Bestätigungen – ob das reicht?

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