Der Tango wurde 2009 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Die UNO-Kulturorganisation nahm den argentinischen und uruguayischen Tanz in die Liste der schützens- und erhaltenswerten Künste und Traditionen auf. Er steht damit auf einer Stufe mit „immateriellen Kulturgütern“ wie der chinesischen Kalligrafie und der indonesischen Batikkunst. Laut dem UNESCO-Übereinkommen zählen zum immateriellen Kulturerbe „Praktiken, Darbietungen, Ausdrucksformen, Kenntnisse und Fähigkeiten – sowie die damit verbundenen Instrumente, Objekte, Artefakte und Kulturräume –, die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Individuen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen.“ In dem Übereinkommen heißt es: „Dieses immaterielle Kulturerbe, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, wird von Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, ihrer Interaktion mit der Natur und ihrer Geschichte fortwährend neu geschaffen und vermittelt ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität. Auf diese Weise trägt es zur Förderung des Respekts vor der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität bei.“ Und zum Tango stellt die UNESCO fest: „Der Tango entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der einfachen Bevölkerung von Buenos Aires und Montevideo, im Becken des Rio de la Plata. An dem Grenzfluss zwischen den beiden Ländern hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts neben den Ureinwohnern europäische Einwanderer und ehemalige Sklaven angesiedelt. Diese Mischung hat Gewohnheiten, Überzeugungen und Rituale hervorgebracht, die sich zu einer unverwechselbaren kulturellen Identität entwickelt haben.“
Nachdem ich seit über zwanzig Jahren in der Tangoszene aktiv bin, wollte ich diesen Anlass benutzen und meine Tango-Impressionen vorstellen. Es sind Eindrücke von einem der ungewöhnlichsten Tänze und menschlichen Betätigungen überhaupt. Der Tango ist mehr als ein Tanz; er ist eine Lebensform, eine lateinamerikanische Kulturtradition, eine internationale Sprache, eine Meditation zu zweit, ein Jungbrunnen des Lebens. Mediziner haben gezeigt: Tango (nicht irgendein Tanz: Nur der Tango!) beugt Alzheimer vor, bringt das Immunsystem auf Trab und treibt den Testosteronspiegel in die Höhe. Als Tanz ist er für jedes Alter geeignet. Beschränkungen nach unten oder oben gibt es nicht. Eines der harmonischsten Tanzpaare, das ich je sah, waren Antonio und Antonia, beide in weiß gekleidet, er 65, sie 15. Niemand nahm daran Anstoß, warum auch?
Wer mit wem tanzt, ist auch egal. Der Tango ist zwar der sinnlichste aller Tänze, und dennoch findet niemand etwas daran, wenn zwei Frauen oder zwei Männer miteinander tanzen, was durchaus geschieht und über die sexuellen Vorlieben der ‚Tangueros‘ und ‚Tangueras‘ nichts aussagt. Deswegen ist es auch so schwierig, den Tango zu definieren, denn er besteht aus lauter scheinbaren Widersprüchen. Er ist, wie die Logiker sagen würden, paradox. Wer mit so was leben kann, ist mit dem Tango gut bedient. Wer alles in Schubladen stecken muss, sollte lieber Walzer tanzen. Oder Schuhplattler.
Neben dem, was wir hier Tango nennen, gibt es auch noch einen Marsch, der bedauerlicherweise auch diesen Namen trägt. Einer Bekannten habe ich einmal den Unterschied zwischen dem „Standardtango“ (wie er im Standardprogramm der Tanzschulen gelehrt wird) und dem „Tango Argentino“ (wie er in Buenos Aires, in Montevideo und in vielen anderen Städten praktiziert wird) so erklärt:
– Der Standardtango hat einen strikten Viererrhythmus, klingt wie ein Marsch und wird auch so getanzt. Er ist ein genormter Tanz mit vorgeschriebenen Figuren und deren Abfolgen. Wer einen Schritt falsch macht, kriegt Punkte abgezogen. In Schlachten wäre er als Anfeuerungsmusik gut geeignet. Das Schlimmste beim Standardtango (wie bei uns im Leben) ist es, zu spät zu kommen.
– Der Tango Argentino hat einen variablen Zweierrhythmus, enthält viele Synkopen und Pausen, ist rhythmisch, harmonisch und melodisch sehr abwechslungsreich. Er ist ein sinnlicher Tanz, bei dem nichts vorgeschrieben ist und das Paar jeden Schritt improvisiert. „Falsche“ Schritte oder Figuren gibt es nicht, nur unelegante. Das Schlimmste beim Tango Argentino ist es, so zu tanzen, wie alle anderen; oder rechtzeitig zu kommen. Ersteres zeigt einen Mangel an Persönlichkeit, letzteres eine Einschränkung der Freiheit.
Deswegen reden wir im Folgenden nur vom „Tango“ und meinen den Tango, und nicht den Marsch, der bedauerlicherweise von Tanz-Standardisierern auch mit diesem Namen ausgestattet wurde. Und weil der Tango ein sehr emotionaler Tanz ist – er vereint Freude und Leid, Hoffnung und Verzweiflung, Fröhlichkeit und Trauer, Gemeinsamkeit und Einsamkeit, Versonnenheit und Tempo, und noch viele andere Gefühle – handelt dieses Buch auch von Erlebnissen und nicht nur von Erkenntnissen, auch von Gefühlen und nicht nur vom Verstand, auch von der Gegenwart des Fühlens und nicht nur von der Vergangenheit des Denkens. Und manche Erkenntnis wird auch sehr gefühlvoll präsentiert. Viel Vergnügen!