Tango-Rezeption

Wie die anderen den Tango sehen

Wir Tangueros & Tangueras schätzen den Tango über alles, aber tun das auch die anderen? Was sagen und sagten die Porteños selber, was sagen Staat und Kirche?
Das größte Lob stammt von einem Schriftsteller aus der Zeit um 400 n. Chr. Augustinus von Hippo (354 – 430 n. Chr.), besser bekannt als der Heilige Augustinus, begeistert sich für den Tanz – natürlich nicht für den Tango, den gab es damals noch nicht – unter anderem mit diesen Worten:

Ich lobe den Tanz
denn er befreit den Menschen
von der Schwere der Dinge
bindet den Vereinzelten
Zu Gemeinschaft.

Ich lobe den Tanz
der alles fordert und fördert
Gesundheit und klaren Geist
und eine beschwingte Seele.

O Mensch lerne tanzen
sonst wissen die Engel
im Himmel mit dir
nichts anzufangen.

Nicht minder begeistert, diesmal wirklich vom Tango, zeigte sich der russisch-amerikanische Tänzer Mikhail Baryshnikov (*1948):
„Der Tango ist ein Tanz von fast unbeschreiblicher Schönheit. Er vereint die Raffinesse des Balletts mit dem Feuer des Flamenco.“
Aber meist wurde der Tango erst mal abgelehnt oder gar verboten. So geschehen durch den König von Spanien, „weil es sich bei diesem Tanz um einen exotischen, wilden und lasziven Paartanz handelt, zu dem unschickliche Texte gesungen werden.“ Der König hieß Philipp II. Hoppla – das war natürlich nicht der Tango, sondern die Sarabande. Und auch bei dieser Warnung handelt es sich nicht um den Tango: „Dieser Tanz ist verpönt, weil die Fußknöchel der Damen sichtbar sind, aber vor allem wegen der ständigen Berührung der Paare.“ Diesmal handelt es sich um den Wiener Walzer. Sie sehen, das Verbot von Tänzen ist nicht neu. Doch es dauerte noch, bis der Tango durch den deutschen Kaiser zumindest für seine Soldaten verboten wurde. Aber erst noch ein paar andere Kommentare, diesmal wirklich zum Tango.
Bereits 1912 bemerkte der deutsche Dichter Otto Flake (1880 – 1963) die mathematische Präzision des Tango, die später durch Rodolfo Dinzel in einem Buch ausführlich beschrieben wurde:
„Ich begann zu ahnen, was in aller Kunst mystisch und klar das Innerste ausmacht: Preziöse Mathematik, ob sie nun Geometrie im einzelnen oder schwebende Verteilung, kosmisches System mit Achse und rotierenden Körpern im Ganzen ist.“
Und was meinten die Argentinier zu ihrem heutigen Exportschlager? Der Tango-Komponist Enrique Santos Discepolo behauptete: 
„Der Tango ist ein trauriger Gedanke, der getanzt wird“. 
Aber Discepolo tanzte selbst nicht, und Tangos sind keine traurigen Tänze. Eher erregten sie Anstoß, besonders in ihrer Heimat Buenos Aires. So schrieb der argentinischer Essayist Ezequiel Martínez Estrada in den 1930erjahren:
„Der Tango ist ein ausdrucksloser, monotoner Tanz mit dem stilisierten Rhythmus des Beischlafs. Er ist seelenlos, gemacht für stumpfe Automaten, die sich den Komplikationen des geistigen Lebens verweigern. Seine Texte sind nichts als das dumpfe Jammern ängstlicher Spasmen.“
1961 wiederholte er seine Tiraden und bezeichnete die Fortbewegung der Tangotänzer als im Schritt eines weidenden Ochsen. Kein Wunder, dass Estrada den Tango nicht mochte: Er stammte aus der Provinz und pries das einfache Landleben. Das aber hat mit Tango nichts zu tun – und umgekehrt.
Der argentinische Schriftsteller Leopoldo Lugones entrüstete sich mit folgenden Worten über den schrecklichen Tanz:
„Dieser Tanz ist ein Bordellreptil, das in den moralischen Niederungen der Gesellschaft geboren wurde!“
Der argentinische Botschafter in Paris, Enrique Laterra, sah sich 1914 bemüßigt, beim französischen Präsidenten eine offizielle Erklärung abzugeben: 
„Der Tango ist bei uns in Buenos Aires ausschließlich ein Tanz der Freudenhäuser und der Zuhälterkneipen. Hier in Paris wird er sogar in den Tanzschulen gelehrt, aber anständige Leute machen so was nur im Bett!“
Auch das Tangofieber in Paris erregte Misstrauen. In seiner Schrift „Le Tango et les Danses Nouvelles“ stellt der Tanzbeobachter Max Rivera 1913 fest: „Der krankhafte Seelenzustand machte schreckliche Fortschritte. Blitzartig ergoss er sich über ganz Paris, drang schnell ein in die Salons, in die Theater, Bars, Nachtcabarets, in die großen Hotels und Vorstadtschenken.“ Und auch andere warnten vor der schamlosen Mode mit anstößiger Herkunft und schändlicher Mentalität.
Besonders anstößig fand den Tango jene Majestät, der ein wenig Sonne gut getan hätte: Wilhelm der Zweite verbot seinen Soldaten, diesen anstößigen Tanz in Uniform zu tanzen. Begründung:
„Dieser Tanz führt den deutschen Offizier auf Irrwege“.
Da hatte er tatsächlich Recht. Die Soldaten dachten beim Tangotanzen nicht mehr an die Pflicht, sondern ans Vergnügen, nicht mehr ans Töten, sondern ans Lieben. Mit einer solchen Einstellung wird der Staat zersetzt und ein Volk geht zugrunde.
Auch die Bayern machten mit. König Ludwig III eiferte seinem preußischen Vorbild nach, und die Königlich Bayerische Polizeidirektion in München verfügte 1914:
„Zum Fasching 1914 wird der Tango ein für allemal verboten. Nach Sachverständigenurteil ist er mehr ein sinnliches Reizmittel als ein Tanz.“ 
Die Königlich Sächsische Polizeidirektion Dresden hatte schon ein Jahr zuvor festgestellt:
„Diese Tänze verletzen das Sittlichkeitsgefühl, weil die Tänzerin dabei häufig die Beine seitwärts abspreizt, sodass man die Unterkleider und die Strümpfe sieht.“
Bayern und Sachsen waren in dieser Hinsicht päpstlicher als der Papst. Zwar verbot Papst Pius X (1835 – 1914) erst mal den Tango als sündhaft. Doch nach dem Vortanzen vor dem Papst durch den Tänzer Casimiro Aín am 7.2.1914 fand der Papst, der Tango sei harmlos und mit dem christlichen Glauben vereinbar. Da hätte er nur auf den Heiligen Augustinus hören müssen, der den Tanz (natürlich nicht den Tango) mit überschwänglichen Worten gelobt hatte (siehe Eingangszitat). Allerdings: Das Vortanzen in den Gemächern Seiner Heiligkeit, empörte den Kardinal-Vikar von Rom. Der verurteilte die Tanzprüfung mit diesen Worten:
„Es ist unerhört, dass dieser schamlose, heidnische Tanz, der ein Attentat auf das Familien- und Gesellschaftsleben bedeutet, sogar in der Residenz des Papstes getanzt wird.“
Aber auch der Schriftsteller und Diplomat Enrique Gómez Carrillo beschrieb 1918 den Tango als ganz und gar züchtig:
„Der argentinische Tango, so wie er in Paris praktiziert wird, ist ein langsamer, eleganter, vornehmer, aristokratischer, keuscher und komplizierter Tanz. Die Paare zählen ihre Schritte mit außerordentlicher Sorgfalt. Der kleinste Fehler, und alles ist verloren. Jede Geste entspricht einer strengen und unveränderbaren Regel. Und es gibt keine einzige seiner Bewegungen, in der Form keine einzige, die nicht das züchtigste Fräulein ausführen könnte.“
Andere Länder wussten das schon früher. Vor allem die Türkei erwartete vom Tango – mit Ermutigung durch ihren verehrten Führer Kemal Atatürk – eine Öffnung zum Westen. So gibt es viele türkische Tangosänger und -innen, und die Türkei besitzt eine lebendige Tangoszene, selbst im traditionellen Anatolien. Weniger Glück hatte der russische Tangosänger Pjotr Leschenko, den Stalin im Lager umkommen ließ. Tango ist zu subversiv, das erkannten alle Diktatoren, nicht nur Stalin. Auch unter Hitler gab es den Tango nur in seiner harmlosen Rudi-Schurike-Version. Die Massenmörder Argentiniens unter Jorge Videla lehnten sowieso alles ab, was nach Selbständigkeit roch. Schließlich gibt es noch ein Volk, das tangobesessen ist: die Finnen. Sie tanzen Tango so, dass ein Mann in Schischuhen und mit viel Alkohol im Blut auch noch mitkommt.
Eine schöne Definition dieses Tanzes der Leidenschaft und Sinnlichkeit fanden wir in der „Enzyclopedia of Latin America“:
„Tango ist fordernde Leidenschaft, Zärtlichkeit, Melancholie und natürlich ein Spiel zwischen Mann und Frau.“
Oder, noch besser, die Inschrift auf dem Grab des unbekannten Tangotänzers:
„Mit der Nacht beginnt jeden Tag ein neuer Tangotraum.“