Tanzgeheimnisse

So tanzt man Tango

Der Hauptgrund, warum wir verklemmten Mittel- und Nordeuropäer den Tango so lieben, dieser Grund liegt in seiner Tanzhaltung, die ganz offiziell und auch sehr passend den Namen „abrazo“ = Umarmung trägt. Denn genau das ist sie: Mann und Frau umarmen einander sofort und ohne Vorspiel in einer Weise, die bei keiner anderen menschlichen Tätigkeit üblich ist – außer (vielleicht) beim Sex. Bei dieser Umarmung fühlt der Mann die Haare der Frau an seiner Wange, er riecht ihr Parfum und spürt ihren Körper an seiner Brust. Die Frau bemerkt den Stoppelbart des Mannes, riecht seinen Schweiß oder sein Rasierwasser und erfährt, wie sich seine Beine um die ihren schlingen. Und das Schönste daran: Wem die Nähe zu diesem Partner nicht gefällt, der oder die kann nach spätestens drei Höflichkeitstänzen die Umarmung wieder lösen – und keiner ist beleidigt. Die Umarmung verpflichtet zu nichts und ist außerdem technisch bedingt, denn die Frau muss stets wissen, was der Mann will, welche Figuren er durch seine Führung plant, und das geht nur über den Körper, nicht über Arme oder irgendein Vorauswissen. Also ist diese Nähe erforderlich – eine schöne Ausrede für dieses einzigartige sinnliche Erlebnis. Kein Wunder, dass die Menschen danach süchtig werden.
Die Umarmung ist also Grundvoraussetzung, den Tango tanzen zu können. Aber es gibt noch andere wichtige Punkte. Ein Berliner Tangotänzer, der sich selbst „Raul“ nennt, hat seine Ansichten und Erfahrungen in einem kleinen Buch in einem obskuren Verlag zusammengefasst. Seine Ansichten sind so bemerkenswert (und das Buch vermutlich nicht mehr erhältlich), dass ich sie hier zitieren und mit eigenen Gedanken verstärken möchte.
Der Tango ist ein zuallererst kein trauriger Gedanke, der getanzt wird (so der Komponist Enrique Santos Discepolo), sondern ein Gedanke, der zu Musik und Tanz wird. Raul meint: Melancholie ist dem Tango fremd. Wenn sie vorkommt, so nur als Nostalgie und Sehnsucht begleitender Hauch. Melancholie ist Hoffnungslosigkeit (und auch) Romantik hat kaum Platz im argentinischen Tango. Denn: Der Tanguero ist ein Verlierertyp, aber zugleich ein Rebell. Der Tango ist sein Dialog mit dem Leben.
Das Wesentliche des Tango liegt in der Improvisation: Improvisation ist ein weiteres wesentliches Merkmal des lateinamerikanischen Tanzes. Sie bedeutet, dass die Variationen der Musik sofort tänzerisch nachgezeichnet werden. Eigentlich führt der Herr nicht, sondern die Musik. Doch es muss auch die Melodie getanzt werden. Das Tanzen der Melodie ist viel schwieriger als das Tanzen des Rhythmus. Aber gerade hierin liegt die wahre Tanzkunst. Denn:
Der Tangotanz besitzt wie alle lateinamerikanischen Tänze eine wesentliche Eigenschaft: Es gibt keine vorgeschriebenen, insofern auch keine verbotenen Schritte. Verboten ist es, ohne Musik zu tanzen. 
Das erinnert mich an eine Episode, die ich vor etlichen Jahren auf der Praterinsel erlebte: Das Veranstalter-Tangopaar tanzte vor. Sie starteten eine Figur, doch bevor sie zum Ende kamen, war die Musik zu Ende. Und die tollen Tänzer hatten nichts anderes im Kopf, als die Figur zu Ende zu tanzen, im Schweigen der Musik. Das ist Tango in München! Doch weiter im Text:
Wenn Improvisation so wichtig ist, warum lernen wir das nicht? Ganz einfach: In Lateinamerika lernen bereits die Kinder auf Festen, die Tänze der Erwachsenen nachzuahmen. In Deutschland dagegen gilt der Tanz generell als Mädchenangelegenheit.Die Jungs spielen Fußball und verstecken sich auf der Toilette, wenn Damenwahl ist (Günter Netzer). Die Menschen bei uns lernen nicht durch Nachahmung, sondern: In Westeuropa ist die Tanzschule zwangsläufig der Eingang zur Tanzfläche. In Deutschland wird ihre Stellung durch zwei urdeutsche Eigenschaften verstärkt: Autoritätsglaube und Hang zum Formalen. – Manchmal versuchen Tangotänzer, Anfängern den Grundschritt (die „base“) beizubringen, erfolglos. Denn die Grundlage des Tanzes ist der Rhythmus.
Also: Wie tanzt man/frau korrekt den Tango? Hier Rauls Rat:
Geschmeidig wie ein Panther, wendig wie ein Fisch, schwebend wie ein Vogel, leicht wie eine Feder: Das sind Eigenschaften, die eine tänzerische Gangart aufweisen muss. Sie ähnelt dann einem Gleiten. (oder einem Schleichen!)