Tango als Gefühl

Was ist Tango? 

fragte mich eines Tages meine Tochter, nachdem sie erlebt hatte, wie ich Weib und Kind des schnöden Tango wegen vernachlässigte. Anstelle einer akademischen Definition habe ich ihr meine Eindrücke geschildert – meinen Tango.
Der Tango ist eine echte Sucht mit allen Wohltaten und Übeln einer Sucht. Da gibt es Abende, wo keine mit dir tanzen will, und die paar Damen, die sich doch dazu hergeben, können nichts, laufen davon, grüßen während des Tanzens ihre Bekannten oder sagen, sie hätten schon bessere Partner gehabt. Und alle Männer tanzen besser als du, das ist klar zu sehen. 
Am nächsten Abend geschieht dann das genaue Gegenteil. Die Stimmung ist aus irgendeinem Grund anders, und schon die zweite Dame findet einen Schritt toll, den du machst. Sie möchte ihn lernen, ihr übt, erst verwickeln sich die Beine ineinander, dann die Körper. Irgendwie kommt ihr wieder auseinander, und da merkt ihr, wie die Musik von Astor Piazzolla den Saal mit wunderbar melancholischen Klängen übergießt. Der Zauber, den nur der Tango kennt, beginnt zu wirken, die roten und blauen Lichter verschmelzen mit den Klängen des Bandoneons, der Rhythmus fließt wie von selbst in die Beine, die Stimmung der Verlorenheit berührt die Seelen. Vergessen sind Schritte und Figuren, Mühen und Plagen. Zwei Körper gestalten gemeinsam ein Kunstwerk, zwei Seelen verschmelzen wortlos mit der Musik, zwei Herzen pulsieren synchron, und die Umwelt existiert nicht mehr … 
Am nächsten Abend siehst du sie wieder, die Dame, mit der du einen so wundervollen Tango-Abend erlebt hast, und möchtest mit ihr tanzen, ein wenig von dem Zauber des gestrigen Abends entzünden. Doch sie liegt, glückselig lächelnd, in den Armen ihres Liebsten und sieht dich nicht … Das ist Tango!