Variante 2 ist die wirklich interessante: Es gibt eine und nur eine Welt, und ich kann sowohl Vergangenheit als auch Zukunft ändern. Mit all den bekannten Paradoxien, die bei klugen Köpfen zu der Ansicht führen, dass Zeitreisen in die Vergangenheit nicht möglich sind. Hier also das wichtigste Paradoxon, auch „Großvaterparadoxon“ genannt:
Das Großvater-Paradoxon (von weniger zart besaiteten Zeitgenossen auch als „Vatermord-Paradoxon“ bezeichnet) besteht darin, dass der Zeitreisende in der Vergangenheit seinen Großvater erschießt (oder seinen Vater!) und damit seine eigene Zeugung bzw. Geburt verhindert. Da er nun nicht geboren wird, existiert er auch nicht, kann also gar nicht in die Vergangenheit reisen, um seinen Großvater zu erschießen. Also existiert er doch, also kann er doch … ad infinitum. Das Paradoxon tauchte in dieser Form erstmals 1933 in der SF-Erzählung „Ancestral Voices“ von Nat Schachner auf. Man braucht aber weder seinen Großvater noch seinen Vater noch sich selbst zu erschießen. Es genügt, den Zeitreisenden (also sich selbst) an der Zeitreise zu hindern, und zwar in dem Augenblick, da er sie antreten soll bzw. ja eigentlich schon angetreten hat. Das geht am einfachsten, indem man ihn in ein interessantes Gespräch verwickelt. Man kommt zum gleichen Ergebnis, ganz ohne Gewalt, ja ganz ohne äußere Handlungen.
Zahlreiche Autoren haben daraus zweierlei konstruiert: entweder eine Art Zeitpolizei, welche darüber wacht, dass die Zukunft in geordneten Bahnen verläuft (Isaac Asimov: Am Ende der Ewigkeit; Poul Anderson: Hüter der Zeiten; Fritz Leiber: Eine große Zeit); oder eine Tourismus-Branche, die sich auf Zeitreisen spezialisiert (Robert Silverberg: Zeitpatrouille); oder beides. Bezüglich der Möglichkeit, die Geschichte durch Manipulationen in der Vergangenheit zu ändern, gibt es zwei Auffassungen, die auch Entsprechungen in der Physik besitzen. Die erste Auffassung postuliert eine Art Trägheitsgesetz der Geschichte. Am besten drückt dies Fritz Leiber in seinen Erzählungen „Die große Zeit“ (1958) aus:
Die meisten von uns treten in die Veränderungswelt mit der falschen Vorstellung ein, dass die geringste Veränderung in der Vergangenheit – ein verschobenes Staubkorn – die ganz Zukunft verändern muss. Es dauert seine Zeit, bis wir seelisch und intellektuell das Gesetz der Bewahrung der Realität akzeptieren: dass nämlich bei einer Veränderung der Vergangenheit die Zukunft sich gerade nur soweit wie nötig verändert, gerade ausreichend, um die neuen Daten aufzunehmen. Die Veränderungswinde treffen stets auf höchsten Widerstand. Sonst hätte der allererste Einsatz in Babylon bereits New Orleans, Sheffield, Stuttgart und Maut Davis‘ Geburtsort auf Ganymed ausgelöscht!
Leiber fährt fort:
Überdenkt doch einmal, wie die durch Roms Zusammenbruch entstandene Lücke durch die imperialistischen und christianisierten Germanen ausgefüllt wurde. Nur ein erfahrener Historiker vermag in den meisten Zeitaltern den Unterschied zwischen der ehemaligen römisch- und der jetzigen gothisch-katholischen Kirche zu benennen. Im Kielwasser der Großen Veränderung werden Kulturen und Individuen transportiert, das stimmt, doch bleiben sie im Wesentlichen, was sie waren, abgesehen von der üblichen Zahl bedauerlicher, aber statistisch bedeutungsloser Unfälle.
Zahlreiche andere Autoren vertreten eine ähnliche Auffassung, unter anderem Isaac Asimov („Das Ende der Ewigkeit“) oder Sprague de Camp („Lest Darkness fall“). Besonders eindrucksvoll ist in dieser Hinsicht Robert Sheckleys „Die wandelbare Zukunft“ (1960). Die Menschen der Zukunft können nur noch mit Masken atmen, denn die großen Wälder sind alle zerstört, der Sauerstoff wird knapp. (Ein technisches Missverständnis: Der Sauerstoff der irdischen Atmosfäre kommt zum Großteil von den Algen der Meere!) Die Wissenschaftler der Zukunft haben herausgefunden, dass es ein Ereignis der Vergangenheit gibt, wo die Weichen gestellt wurden: Die Begegnung zweier Geschäftsleute. Der eine besucht den anderen in seinem Büro, und als er es wieder verlässt, ist der andere tot, der Vertrag über den Schutz der Wälder kommt nicht zustande, mit den bekannten fatalen Folgen.
Die Geschichtsmanipulatoren probieren es nun gleich in drei verschiedenen Parallelwelten, das Ereignis – das Treffen der beiden – rückgängig zu machen. Zweimal gelingt es nicht, beim dritten Mal schon, doch das Resultat ist aus unterschiedlichsten (psychologisch wunderbar geschilderten) Gründen immer das Gleiche: Der Geschäftsmann ist nach dem Treffen tot: einmal im Zorn vom Besucher attackiert, einmal durch ein vergiftetes Schwert versehentlich getötet, einmal durch Selbstmord geendet. Sheckley schildert mit raffinierter Psychologie die schicksalhaften Ereignisse und zeigt: auch dreimalige Manipulationsversuche bringen nichts.
Vom strengen Determinismus unterscheidet sich diese Einstellung ähnlich wie die statistische Thermodynamik von der klassischen Mechanik: Unwahrscheinliche Zustände sind möglich, aber man muss nicht wirklich mit ihnen rechnen. Kurzum: Die Geschichte zu ändern ist nicht ganz einfach.
Nun seien Sie mal ehrlich: Wäre es Ihnen möglich, das Attentat auf Kennedy zu verhindern oder das auf Hitler zum Erfolg zu bringen? Und wenn ja, welchen Weg würde die Geschichte dann nehmen? Sicherlich einen anderen, als Sie sich vorstellen. In den zahlreichen Gedankenspielen zu alternativen Geschichtsentwürfen (siehe Literaturliste) wird die Möglichkeit eines erfolgreichen Attentats auf Hitler 1944 sehr negativ beurteilt: Die SS würde die Macht übernehmen, der Angriffskrieg würde gemildert oder eingestellt werden, die Nazis hätten mehr Mittel, sich zu verteidigen und würden den Krieg hinauszögern – bis es den Amerikaner endlich gelingt, eine Atombombe zu bauen. Und die würde möglicherweise über Deutschland abgeworfen werden.
Eine solche fatalistische Einstellung haben viele SF-Autoren, wobei der Übergang vom Determinismus zur Beeinflussbarkeit der Geschichte fließend ist. Und wie steht es im privaten Bereich? Könnte man das eigene Leben ändern, wenn man bestimmte Ereignisse der Vergangenheit anders gestaltet? Es ist zu bezweifeln. Zu diesem Thema gibt es zwei ausgezeichnete, wenngleich wenig bekannte Filme. In dem Film Mord um Mitternacht (Turn back the clock) (1989) gerät eine Frau am Sylvesterabend mit ihrem Mann wegen seiner Affäre in einen heftigen Streit. Er beginnt sie zu würgen, sie greift in eine Schublade, in der zufällig eine geladene Pistole liegt, und erschießt ihn. Entsetzt wankt sie nach unten zur Feier – und da begrüßt sie ihr Mann, munter und fröhlich, als ob nichts geschehen wäre. So kommt sie drauf, dass sie ein ganzes Jahr in die Vergangenheit gerutscht ist und jetzt ein Jahr Zeit hat, die Zukunft zu korrigieren.
Als erstes verhindert sie die Zusammenkunft der Geliebten mit ihrem Mann. Vergeblich – er lernt sie eben später kennen. Und am Sylvesterabend kommt es wieder zum Streit. Diesmal allerdings hat sie die Pistole vorsorglich entfernt. Ebenfalls vergeblich: Ein guter Bekannter hat die Sache mitgekriegt, ist den beiden nachgeschlichen und erschießt jetzt (mit seiner eigenen Pistole) ihren Mann, bevor der seine Frau erwürgt. Fazit: Auch das private Schicksal kann man nicht ändern.
So ähnlich beginnt auch der Film Lieber gestern als nie (The Man with Rain in His Shoes) (1999), mit umgekehrten Rollen. Hier fängt die Freundin des künstlerischen Helden eine Affäre mit einem Mann an, der nicht nur stark ist (sie lernt ihn im Fitnessstudio kennen), sondern auch edel: Er will in ein Entwicklungsland gehen. Diesmal wird der Held nur drei Monate zurückversetzte und verhindert erst mal erfolgreich das Treffen im Fitnessstudio. Vergeblich: Am nächsten Tag bringt ihn ihre beste Freundin mit, und die Geschichte nimmt den bekannten Verlauf. Allerdings endet die Sache glücklich, denn durch die Trennung rafft sich der träge Lebenskünstler endlich auf und macht etwas aus seinem Leben. Er lernt sogar die richtige Frau kennen, während es mit seiner Ex bergab geht, bis auch sie die Chance einer Lebenskorrektur erhält.
Manchmal mache ich mir die Mühe, das eigene Leben oder das guter Bekannter alternativ aufzurollen („Was wäre geschehen, wenn ich damals nicht … sondern …“). Ergebnis: Manche Entwicklungen hätten sich beschleunigt, manche verzögert, insgesamt wäre aber ungefähr das Gleiche herausgekommen, mit leichten Gewichtsverschiebungen bezüglich Interessen, Partnerschaften und beruflicher Karriere.
Die andere Auffassung von der Möglichkeit, die Zukunft zu ändern, ist der Schmetterlingseffekt (Edward N. Lorenz, 1963). Der Meteorologe Lorenz hat ihn poetisch so formuliert: „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings zu einem Wirbelsturm in Texas führen?“ Die Antwort lautet: Manchmal schon. Wie üblich, hat ein Science-Fiction-Autor die Sache, sogar mit dem gleichen Titel, um Jahrzehnte vorausgenommen. In der Erzählung „A sound of thunder“ (1952; auch in der Sammlung „Die goldenen Äpfel der Sonne“) von Ray Bradbury geschieht genau dies: Zeitreisende in die Kreidezeit schauen sich das Treiben der Saurier an, aber einer der Männer verlässt den geschützten Bereich der Zeitmaschine und zertritt einen Schmetterling. Als sie wieder zurückkommen, ist die Welt verändert: An- stelle der gewohnten Demokratie finden die Männer nun eine üble Diktatur vor.
Etwas amüsanter behandelt William Tenn das Thema in der Erzählung „Me, myself and I“ (1947). Der zerstreute Professor, ein eingefleischter Junggeselle namens Ruddle, schickt einen Penner namens Gooseneck McCarthy ebenfalls in die Kreidezeit, wo dieser einen Stein wegschiebt, unter dem ein Tausendfüßler davon kriecht. Als er zurückkommt, ist der Professor mit einem Drachen von Ehegattin gesegnet und heiöt jetzt Guggles. Er schickt den Penner nochmals in die Vergangenheit, um die Sache mit dem Tausendfüßler rückgängig zu machen, weil er ja eigentlich Junggeselle bleiben wollte. In der Kreidezeit begegnet McCarthy sich selbst, vielmehr einem Mc-Carney, der sich weigert, den Stein wieder zurück zu hieven. Die Sache wird noch komplizierter, als ein drittes Exemplar auftaucht. Im Verlauf der Erzählung wechseln sowohl der Professor als auch der Penner als auch die Bank, auf die der Scheck für den Penner ausgestellt ist, zweimal den Namen.
Als besonders pessimistisch erweist sich Sprague de Camp in seiner Erzählung „Aristotle and the gun“ (1958). Hier reist ein Wissenschaftler ins alte Griechenland, um Aristoteles, dem einzigen halbwegs modernen Gelehrten, Dampf unterm arbeitsscheuen Hintern zu machen: Er will ihm sagen, dass Experimentieren gut ist und den Fortschritt der Menschheit beschleunigen hilft. Indes, es geschieht das genaue Gegenteil: Der Zeitreisende wird als Spion verdächtigt, und gerade rechtzeitig vor seiner Massakrierung entkommt er in seine Zeit – aber nicht in seine Welt. Er landet in einer modernen Form der Aztekenherrschaft, ohne Wissenschaft, ohne Freiheit, ohne Zukunft. Denn durch sein Escheinen in der Vergangenheit war Aristoteles so desavouiert worden, dass ihn niemand mehr ernst nahm. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wurde dadurch derart blockiert, dass die Europäer Amerika nie eroberten, mit dem geschilderten Ergebnis. Guter Wille, schlechte Folgen!
Die physikalische Grundlage für diese Art der Geschichtsmanipulation ist die von Henri Poincaré zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aufgestellte Chaostheorie. Sie wurde später von Benoit Mandelbrot ausgebaut, der dem „deterministischen“ Chaos ein wunderbares Symbol verpasste: das Apfelmännchen. „Deterministisch“ ist das Chaos deshalb, weil die Ereignisse immer noch den strengen Regeln der Newtonschen Physik folgen. Doch führen infolge eines Regelkreises (positive Rückkopplung: ein Prozess beeinflusst sich selbst unzählige Male) winzige Abweichungen zu Beginn des Kreises zu großen Abweichungen am Ende, wegen der Wiederholung. Auch unvermeidliche Ungenauigkeiten der Messung oder sogar des Computers zeitigen das gleiche Resultat: Mann kann die Entwicklung nicht mehr voraussagen. Solche chaotischen Zustände treten aber nur unter bestimmten Bedingungen auf. Im Bereich der Geschichte sind dies absolut unberechenbare Entwicklungen wie etwa Revolutionen.
Irgendwie scheinen echte Zeitreisen in die Vergangenheit, ohne die Möglichkeit der Flucht in Parallelwelten, gewisse Probleme zu berieten. Die Geschichte der Menschheit können wir ja doch nicht ändern, und die private Geschichte offenbar auch nicht so recht. Da helfen uns vielleicht virtuelle Welten weiter. Für einen Artikel im PM-Magazin habe ich mir ein Programm ausgedacht, das natürlich (ohne mein damaliges Wissen) schon jemand vor mir hatte, nämlich der gute Doktor Asimov in seinem Roman „Das Ende der Ewigkeit“. Ich stelle das Programm TEMPORAL jetzt trotzdem vor. Es funktioniert als neuronales Netzwerk etwa so:
Nach Installation des Programms muss der Benutzer sämtliche Daten des eigenen Lebens eingeben, alle Ereignisse, Krankheiten, Gefühle und Erinnerungen, je vollständiger, desto besser (Phase 1). Danach wird das Programm kalibriert. Es geht in bestimmte Situationen der Vergangenheit und versucht, die sich daraus ergebenden Ereignisse vorauszusagen. Die Voraussage wird mit der Wirklichkeit verglichen, und so nähert sich das Programm in seinen Berechnungen immer mehr der Realität (Phase 2). Auch bei der Vorhersage künftiger Ereignisse wird ständig nachgeeicht. Der Benutzer kann nach dieser Phase nun das Programm für Reisen in virtuelle Parallelwelten benutzen (Phase 3). Dazu ändert er eine Situation der Vergangenheit und bekommt vom Programm drei wahrscheinliche Welten vorgestellt, zusammen mit den Entwicklungen, die sich daraus ergeben würden. Eine schöne und ungefährliche Art, die eigene Vergangenheit, Zukunft und Parallelwelt zu erforschen.
Soweit zur Zukunft, aber kann man die Vergangenheit überhaupt ändern? Es gibt tatsächlich einen Hinweis, wenngleich auf esoterischem Gebiet. Beginnen wir mit einer Kunst die zwar mit Wissenschaft nichts zu tun hat, dafür aber immer für interessante Gespräche sorgt: die Kunst des Handlesens. Der Verfasser dieses Buchs hat sich früher damit beschäftigt und wurde dabei immer wieder mit einer seltsamen Tatsache konfrontiert. Die Linien in einer Hand zeigen, laut Überlieferung der Handliniendeuter, auch eine zeitliche Entwicklung an. Dies würde bedeuten, dass die gesamte Zukunft eines Menschen auf Grund seiner Handlinien bereits festgelegt ist. Doch das stimmt nicht: Linien können sich ändern, und damit auch die Zukunft – oder die Vergangenheit! Es hängt davon ab, in welchem Bereich sich die Linie ändert. Wie aber kann die Vergangenheit, die ja schon geschehen ist, eine andere werden?
Mit Hilfe der Quantenphysik, behauptet der Physiker Fred Alan Wolf, der in seinem Buch „Star Wave“ (1984) die Ideen und den mathematischen Formelapparat der Quantenphysik auf die Psyche des Menschen anwendet und dabei zu der Erkenntnis kommt: Die Zukunft ist für die Gegenwart wichtiger als die Vergangenheit. Und: Die Zukunft existiert bereits, die Vergangenheit dagegen wird ständig neu erschaffen, und zwar durch Erinnern. Wolf verwendet für seine Erkenntnisse den Formelapparat von Dirac in einer originellen Interpretation. Aber das hier darzustellen wäre technisch zu aufwändig.