(3) Der Fluss der Zeit

Unser unmittelbarstes Erlebnis der Zeit liegt in dem Gefühl, die Zeit fließe unerbittlich von der Vergangenheit in die Zukunft. Wir können sie nicht aufhalten, nicht verlangsamen, nicht beschleunigen, und schon gar nicht umkehren. Das meinte auch Isaac Newton, als er die „absoluten Zeit“ in die Naturphilosophie (sprich: Physik) einführte. Sie sei unbeeinflussbar und schreite gleichmäßig fort; sie könne allerdings vom Menschen nicht direkt wahrgenommen werden.

Nun werden manche einwenden: Aber bei Einstein könne sich die Zeit doch dehnen, jedenfalls bei hohen Geschwindigkeiten. Doch diese Zeitdehnung oder -dilatation ist eine Illusion, wie schon das Zwillings-Paradoxon zeigt, das kein Paradoxon  ist, sondern  ein handfester und bis heute ungelöster Widerspruch. Angebliche Experimente, welche diese Zeitdehnung bestätigen sollen, sind technisch zweifelhaft und logisch widerspruchsvoll. Auöerdem: Selbst wenn es eine solche Zeitveränderung gäbe, läge darin keine Möglichkeit, die Zeit willentlich zu beeinflussen. Zeitreisen sind mit Einsteins Spezieller Relativitätstheorie nicht möglich.

Hat die Zeit indes Flusseigenschaften, könnten wir ein paar Überlegungen anstellen, die Physiker bezüglich Strömungen entwickelt haben. Die erste Frage lautet: Wie schnell flieöt die Zeit, und im Vergleich wozu? Die Frage scheint sinnlos, denn die Zeit fließt mit der Geschwindigkeit von einer Sekunde pro Sekunde. Doch das muss nicht sein. Stünde die Zeit still, während das Bewusstsein uns den Fluss der Zeit vorgaukelt, dann wäre die Zeitgeschwindigkeit null. Wäre die Zeit dagegen allgegenwärtig und überall gleich (wie es Newton und Einstein in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie vor- aussetzen), dann hätte sie die Geschwindigkeit unendlich. Tatsächlich beträgt ihre Geschwindigkeit 2200 km/sec, wie der russische Physiker Kosyrew 1990 theoretisch abgeleitet und experimentell gefunden hat! Davon gleich mehr.

Wir alle kennen das Bernoulli-Gesetz für Strömungen aus der Anschauung: Verengt sich das Flussbett, strömt das Wasser schneller, denn der Fluss als ganzer kann nicht abreißen. Übertragen wir dieses Gesetz auf unsere Wahrnehmung der subjektiven Zeit, dann finden wir Analogien. Unser Bewusstsein – das Strombett der Zeit – verengt sich dann, wenn wir uns ganz auf eine Sache konzentrieren. Und dabei vergeht die Zeit im Nu. Umgekehrt: Je weniger zielorientiert wir handeln – wenn wir also einfach herumlungern – dann vergeht die Zeit unendlich langsam, bis sie bei tiefer Bewusstlosigkeit (Koma) zum Stillstand kommt und unter dem Einfluss psychedelischer Drogen zum turbulenten Strom entartet oder gar rückwärts läuft.

Bernoullisches Gesetz: Verengt sich das Flussbett, wird die Strömung schneller

Strömung um ein Hindernis: Es bilden sich Turbulenzen, und hinterdem Hindernis flieät der Fluss sogar in Gegenrichtung!

Die Zeit als aktiver, physikalisch messbarer, die Umwelt beeinflussender, von ihr beeinflussbarer Strom – eine tolle Idee. Sie stammt von  dem  russischen  Physiker  Nikolai  Alexandrowitsch  Kosyrew (auch „Kozyrev“ geschrieben) (1908 – 1983), der sie in einer Reihe einfacher Experimente mit asymmetrischen Torsionswaagen und Gyroskopen bewiesen zu haben glaubt.

Kosyrew beginnt seine Überlegungen damit, wie wir Zeit und ihre Richtung überhaupt definieren können. Dazu nimmt er die einfachste und wichtigste Beziehung in der gesamten Naturwissenschaft: die Kausalität. Wenn A die Ursache für B ist, dann liegt der Zeitpunkt des Ereignisses A vor dem Zeitpunkt des Ereignisses B. So kann die Richtung der Zeit festgelegt werden – vorausgesetzt, wir glauben nicht an einen Einfluss der Zukunft auf die Vergangenheit! (siehe voriges Kapitel). Es gibt nun eine Minimalzeit für die Übertragung kausaler Einflüsse, sprich: Impulse. Auf etwas obskure Weise be- rechnet Kosyrew die Geschwindigkeit der kausalen Minimalübertragung zu dem schon erwähnten Wert von 2200 km/sec, das ist weniger als 1 % der Lichtgeschwindigkeit.

Weiter geht Kosyrew davon aus, dass die Zeit Spuren hinterlässt, aber nur bei Drehungen – deshalb auch die Experimente mit Gyroskopen (Kreiseln). Die bevorzugte Zeitrichtung – von der Vergangenheit in die Zukunft, von der Ursache zur Wirkung – entsteht durch eine Drehungs-Asymmetrie des Raums. Davon zeugen alle Formeln der Physik, in denen Magnetismus vorkommt, denn Magnetismus entsteht unter anderem durch den Spin – das Kreiseln um die eigene Achse – von Elektronen, und dieses Kreiseln hat im dreidimensionalen Raum eine Vorzugsrichtung.

Zudem verdichten Systeme, welche Ordnung schaffen, die Zeit in sich selbst, sie saugen also Zeit an, während sie bei Systemen, die ins Chaos driften, ebenso verrinnt und verschwindet. Wer also etwas gestaltet und aus dem Nichts Strukturen erschafft – wie alle Lebewesen – der sammelt Zeit und verdichtet ihren Strom in seinem Innern. Wer die Dinge treiben lässt – wie die Natur – der verliert Zeit, und das ganz wörtlich. Durch spezielle Materialien (z.B. Aluminium) kann Zeit in einer Art Käfig sogar gesammelt und verdichtet werden, was ein wenig an Wilhelm Reichs „Orgon-Akkumulator“ erinnert. Aber die Russen haben es schon immer geschafft, physikalische Exaktheit mit esoterischen Vorstellungen zu kombinieren.

Kosyrew entdeckte sogar das, was in der SF-Literatur als Zeitschleifen bekannt ist: Ein Prozess verläuft, scheinbar ohne Ursache, immer wieder im Kreis.  Solche isolierten, zeitlosen Vorgänge sind für ihn thermodynamisch reversible Prozesse, also solche, in denen keine Energie (durch Wärme, durch Reibung) verloren geht, und die sich perpetuum-mobile-haft ewig wiederholen.

Wenn Kosyrew recht hat, was könnten wir daraus lernen? Zum Beispiel dies: Ist Ihnen vielleicht auch schon aufgefallen, dass es Menschen gibt, die viel arbeiten, viel schaffen, dennoch immer Zeit haben, nie unter Stress stehen und sich auch den Mitmenschen widmen? Ihr Verhalten wird durch Kosyrews Thesen erklärbar: Sie sau- gen Zeit aus der Umgebung, bei ihnen ist der Zeitstrom dichter, sie haben ganz wörtlich mehr Zeit, indem sie die vorhandene Zeit so intensiv nutzen. Das Gegenteil kennen Sie sicher auch: Menschen, die nichts zu tun haben, nichts tun, sich aber immer beklagen, sie hätten keine Zeit (wie z.B. Rentner – etwa der Verfasser dieses Buchs!). Nach Kosyrew verdünnt sich bei diesen Personen der Zeitstrom, sie verlieren Zeit, und sie haben durch ihr Nichtstun tatsächlich weniger Zeit zur Verfügung.

Es gibt sogar einen (ziemlich schlechten) SF-Roman, der in der schon lange verschollenen Reihe „Utopia Kleinband“ des Pabel-Verlags ca. 1955 erschienen war und der die Kosyrewsschen Ideen der Zeitverdichtung und -verdünnung vorausgenommen und durch grauenhafte Erlebnisse von Mondfahrern illustriert hat. In dem Roman „Weiße Hölle Mond“ des Jim-Parker-Autors Alf Tjörnsen finden die unglücklichen Raumfahrer Steine auf dem Mond, die sie unaufhaltsam und beschleunigt altern lassen. Einer der Überlebenden schildert deren Eigenschaften so: „Die ‚Zeit-Magneten‘ nenne ich sie. Sie halten ein ‚Zeit-Feld‘, genauso, wie ein Magnet ein magnetisches Feld hält. Wenn nun irgendwelches Leben oder eine mechanische Bewegung in den Bereich dieses konzentrierten ‚Zeit-Feldes‘ kommt, beginnen die Steine, dieses Feld freizugeben. Es ist dann so, als ob ein Magnet in Feuer aufgeht und seinen Magnetismus abgibt. Nun kommen jene ‚Zeit-Felder‘ aus den Steinen heraus.“ Und die Erklärung dafür: „Der Mond kann gar nicht mehr älter werden! Der größte Teil des Alters und der Zeit, die sich in den Steinen aufhalten (und deshalb, weil der Mond ja nicht mehr älter werden kann, in die Steine gehen) wird also aufgehoben. Diese Zeit hat uns an einem Tag zualten Männern gemacht und wir sterben am Alter.“ Der Mond hat durch seine Untätigkeit praktisch ein Zeit-Vakuum erzeugt, in welches die Zeit der lebendigen Raumfahrer hineingesogen wird.

Der Zeitstrom könnte auch umgelenkt werden, z.B. in die Vergangenheit. Damit wären nach Kosyrew zwar keine Zeitreisen möglich, wohl aber Botschaften in die Vergangenheit – oder aus der Zukunft! Der SF-Autor James Blish hat diese Idee mit seinem „Dirac-Radio“ in der Erzählung „Störgeräusch“ (Beep, 1954) physikalisch korrekt und menschlich spannend umgesetzt.

Der Zeitstrom könnte vor allem beschleunigt oder verlangsamt werden, bis zum Stillstand. Beispiele dafür aus der Science-Fiction:

Zeitverlangsamung:

David J. Masson: Ablösung (1965). In: „Die Fußangeln der Zeit“ (Der Krieg währt ewig; je weiter vom Kriegsschauplatz entfernt, desto langsamer fließt die Zeit)

Peter Schattschneider: Am Anfang war die Kraft (1984). In: „Singularitäten“ (Zeitverlangsamung durch Schwarze Löcher)

Zeitbeschleunigung:

H. G. Wells: Der neue Beschleuniger (1901). The Strand Magazine. (Biologische Zeitbeschleunigung durch Drogen: Die Umwelt steht still)

Zeitstillstand:

Murray Leinster: The eternal now (1944). Thrilling Wonder Stories (wie bei H.G. Wells)

Arthur C. Clarke: Alle Zeit der Welt (1961). In: „Die andere Seite des Himmels“

Peter Schattschneider: Zeitstopp (1982). In: „Zeitstopp“

Zeitdehnung:

Paul van Herck: Framstag Sam. Heyne 1981 (Zeit-Einschübe zwischen Freitag und Samstag; später sogar zwischen Donnerstag und Freitag)

Zeitumkehr:

F. Scott Fitzgerald: Der seltsame Fall des Benjamin Button (1922) (auch verfilmt) (Satire)

Frederic  Brown:  Das  Ende (1961). In: „Nightmares  and  Geezenstacks“

Ian Watson: Die sehr langsame Zeitmaschine (1978). In: „Die Fußangeln der Zeit“ (realistische Darstellung der Kommunikationsprobleme)

Peter Schattschneider: Die Jez’r-Fragmente (1984). In: „Singularitäten“ (Zeitumkehr + Personenverdopplung durch ein Schwarzes Loch)