Das Zeitparadoxon: die Darstellung

Es gibt mehrere Zeitparadoxa, doch wenn wir von dem Zeitparadoxon sprechen, meinen wir das eine: Jemand reist in die Vergangenheit und verhindert entweder seine eigene Existenz („Großvater- Paradoxon“) oder einfach seine Abreise in die Vergangenheit. Dann aber kann er, wenn es nur eine Welt gibt, in der Vergangenheit gar nicht existieren, Also kann er dort auch keine Handlungen setzen. Also kann er doch existieren. Also kann er doch … ad infinitum. In der englischen Fachliteratur heiöt es das „bilking paradox“ = das Paradoxon des Zechprellers weil man – z.B. in einer Zeitschleife – et- was erhält, ohne dafür was zu tun.

Das sieht man am besten beim Informationsparadoxon, das der Science-Fiction-Autor Anthony Burgess in seiner herrlich absurden Geschichte „Die Muse“ am besten veranschaulicht (in: „Die Fußangeln der Zeit“). Ein Shakespeare-Verehrer besteigt eine Zeitmaschine, beladen mit sämtlichen Werken seines Idols, und sucht den Meister persönlich auf, zwecks Autogramm-Sammlung. Doch Shakespeare, in Wirklichkeit ein fauler, nichtsnutziger und völlig unbegabter elisabethanischer Playboy, nimmt ihm alle Bücher weg – und schreibt seine eigenen Werke ab. So erhebt sich nun die bange Frage: Wer hat Shakespeares Werke ursprünglich verfasst?

Robert Silberberg hat in seinem amüsanten Roman „Zeitpatrouille“ (1969) eine ganze Reihe von Zeitparadoxien aufgezählt, darunter das Paradoxon des zunehmenden Publikums, der Transitversetzung, der Diskontinuität, der Akkumulation, und das äuöerte Zeitparadoxon (letzteres bedeutet: In der Vergangenheit stellt irgendwer die Weichen so, dass Zeitreisen unmöglich werden. Also sind auch die Handlungen dieser Person unmöglich. Oder vielleicht doch?) Auf jeden Fall müssen wir uns jetzt die Sache grafisch anschauen. Wie üblich in einem Diagramm, bilden wir die Zeit in der waagrechten Achse ab, und die senkrechte Achse nehmen wir für den Ort. Die Linie,  welche  die  Existenz  eines  Objekts  in  diesem  Raum-Zeit-Diagramm beschreibt, nennen wir „Weltlinie“. Und noch etwas: Üblicherweise heiöt der Zeitreisende „Oskar“. Und weil der sich gele- gentlich verdoppelt oder gar vervielfacht, wird er durch eine angehängte Zahl charakterisiert, z.B. „Oskar-1“. Ein Mensch, der sich vor der Zeit t1 und nach der Zeit t2 nicht vom Fleck rührt, hat dann folgende Weltlinie:

Bild 1: Raum-Zeit-Diagramm. Eingezeichnet ist die Weltlinie eines Objekts, das bis t1 ruht, dann nach oben rückt und ab t2 wiederum ruht.

Eine Zeitreise in die Vergangenheit sieht dann so aus, wie im Diagramm unten gezeichnet. Wir haben Oskar als Zeitreisenden grau dargestellt, um zu zeigen, dass er möglicherweise nicht aus der bekannten Materie besteht, sondern als etwas, das wir „Schattenmaterie“ nennen wollen.

Bild 2: Weltlinie einer Reise in die Vergangenheit. Oskar reist zur Zeit t2 in die Vergangenheit, kommt zur Zeit t1 an einer anderen Stelle seines Zimmers an und lebt als Doppelgönger („Oskar-2“) weiter. Als Zeitreisender („Oskar-X“) hat er eine andere Konsistenz; deswegen die andere Farbe dieses Teils der Weltlinie

Das nächste Diagramm zeigt uns das Zeit-Paradoxon: Die Weltlinievon Oskar ist nicht mehr stetig (durchgezogen), sondern an der Stelle tT (T = Tod) unterbrochen, weil zu dieser Zeit Oskar-2 den Oskar-1 tötet.

Bild 3: Zeit-Paradoxon. Oskar-2 tötet zur Zeit tT den Oskar-1 oder hindert ihn an der Zeitreise. Wie aber kann er dann zu Oskar-2 werden?

Unlösbare Situation? Keineswegs. Wir müssen nur unsere Betrachtungsweise ändern. Was wir bisher taten: Wie haben die Ereignissemit den Augen des Zeitreisenden gesehen. Diese Logik wollen wir Zeitreiselogik nennen. Jetzt aber schauen wir uns das Ganze mit den Augen eines stillstehenden Betrachters an. Diese Logik wollen wir Kausallogik nennen. Dazu müssen wir uns mit einer Zeitebene von links nach rechts bewegen, die Dinge also so sehen, wie es unser Bewusstsein – und die Physik! – erlebt. Dann sieht die normale Zeitreise aber ganz anders (viel komplizierter) aus. Erst mal konkretisieren wir die Zeiten zu t1 = 10 Uhr und t2 = 11 Uhr. Die Zeitreise beginnt also um 11 Uhr und endet eine Stunde früher. (Über die subjektive Zeit des Zeitreisenden wissen wir nichts; wir nehmen einfach an. dass alles sehr schnell geht und für den Zeitreisenden die Zeitreise nur ein paar Minuten dauert.) Dann ergeben sich höchst seltsame Dinge, die wir im Buch grafisch illustriert haben. Hier also das Protokoll einer Zeitreise:

09:59 Uhr. Oskar-1 sitzt in seiner Zeitmaschine (rechts) und tut erst mal nichts.

10:00 Uhr. Plötzlich taucht aus dem Nichts ein zweiter Oskar auf (Oskar-2, links).

10:30 Uhr. Zwischen 10 und 11 Uhr ist ein dritter Oskar (Oskar-X, Mitte) schattenhaft zu sehen. Es handelt sich um den Zeitreisenden wöhrend der Reise.

10:59 Uhr. Kurz vor 11 Uhr verschmilzt Oskar-X (schattenhaft) mit Oskar-1 (rechts)

11:00 Uhr. Oskar 1 hat seine Zeitreise angetreten und ist damit verschwunden. Ab jetzt gibt es nur noch Oskar-2 (links).

Ganz schön kompliziert? Dann wiederholen wir das Ganze mit einem einfachen Experiment, der Erzeugung und Vernichtung einesElektron-Positron-Paars. Das sieht so aus:

Bild 9: Erzeugung und Vernichtung eines Elektron-Positron-Paars

Zur Zeit t1 bildet sich aus einem energiereichen Gammastrahlenblitz ein Elektron und ein Positron. Beide werden erst durch ein Magnetfeld getrennt, streben also auseinander. Dann wird das Feld abgestellt, die beiden Elementarteilchen streben wieder zueinander und verschmelzen zur Zeit t2  miteinander. Ihre Massen lösen sich in Energie auf und erzeugen einen Gammastrahlenblitz.

Das alles ist physikalisch und logisch ganz einfach und experimentell oft erreicht. Wenn wir allerdings die Interpretation von Wheeler-Feynman zugrunde legen und das Positron als ein Elektron betrachten, welches sich verkehrt in der Zeit bewegt, dann sieht das Diagramm zwar genauso aus, erhält aber eine andere Beschriftung und damit Deutung: Das Elektron ist in einer Zeitschleife gefangen!

Bild 10: Zeitschleife eines Elektrons

Ein Elektron entsteht zur Zeit t1 scheinbar aus dem Nichts, beschreibt eine leicht gekrümmte Bahn, wandert ab t2 in der Zeit wieder zurück und beginnt seine Reise erneut bei t1. Das Ganze klingt jetzt ziemlich unlogisch, obwohl alles seine Ordnung hat (wir haben nur die Energien beiseite gelassen). Um einen Bezug zu unseren Oskars herzustellen, modifizieren wir den Versuch ein wenig. Das sieht dann so aus:

Bild 11: Zeitreise eines Elektrons

Dieses Bild sieht nun genauso aus wie Bild 2, die Reise eines Zeitreisenden in die Vergangenheit. Wir aber interpretieren das Bild gleich richtig, Routine haben wir ja schon. Also: Zur Zeit t1 entsteht durch einen Gammastrahlenblitz ein Elektron-Positron-Paar (oben). Gleichzeitig zu dem jetzt entstandenen Elektron-2 existiert schon seit längerem Elektron-1 (unten), das zur Zeit t2  mit dem Positron zusammenstößt und verschmilzt und die dabei entstehende Energie an die Umwelt abgibt (unten). Elektron-2 bleibt davon unberührt und existiert weiter.

Wie gesagt, die Sache ist vom Standpunkt des Zeitreisenden ganz einfach: Wir identifizieren Elektron-1 = Oskar-1, Positron = Oskar-X, Elektron-2 = Oskar-2. Dann erhalten wir Bild 2. Vom Standpunkt der Kausallogik klingt die Sache ein bisschen komplizierter – aber dieser Standpunkt  zeigt uns die Lösung des Zeitparadoxons! Mehr dazu im nächsten Kapitel.