Viele große und weniger große Denker haben sich mit dem Phänomen der Dreiteilung unserer Erfahrung auseinander gesetzt. Die Definition des Heiligen Augustinus, auch Aurelius Augustinus oder Augustinus von Hippo genannt (354 – 430) haben wir im ersten Kapitel schon erwähnt:
In der Gegenwart werden die Zukunft, die an sich noch nicht ist, und die Vergangenheit, die an sich nicht mehr ist, im Geiste sichtbar.
Interessant seine Überlegungen zu einem Zeitfluss:
Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu bestehen.
Bei Augustinus fließt die Zeit also umgelehrt, von der Zukunft in die Vergangenheit. Andere Autoren meinen, nicht die Zeit fließe, sondern unser Bewusstsein:
„Die Zeit ist nur ein leerer Raum, dem Begebenheiten, Gedanken und Empfindungen erst Inhalt geben.“ meinte Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835).
Friedrich Schiller (1759 – 1805) sagt, was wir alle fühlen:
„Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft herangezogen, pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, ewig still steht die Vergangenheit.“
Eine besonders boshafte Definition liefert der amerikanische Satiriker Ambose Bierce (1842 – 1914) in seinem „Wörterbuch des Teufels„. Dort steht:
Vergangenheit, subst.fem. Jener Teil der Ewigkeit, von dem uns bedauerlicherweise ein kleiner Bruchteil oberflöchlich bekannt ist. Eine bewegliche Linie namens Ö Gegenwart trennt sie von einer imaginören Periode namens Ö Zukunft. Diese beiden Abteilungen der Ewigkeit, von denen die eine stöndig die andere auslöscht, sind sich einander völlig unöhnlich. Die eine ist dunkel vor Sorgen und Enttäuschung, die andere heil vor Wohlergehen und Freude. Die Vergangenheit ist das Reich der Seufzer, die Zukunft das Reich des Gesangs. In der einen kauert die Erinnerung, angetan mit Sacktuch und Asche, und murmelt ein Buägebet; im Sonnenschein der anderen fliegt die Hoffnung auf freien Schwingen und lockt zu Tempeln des Erfolgs und Gemöchern des Seelenfriedens. Doch ist die Vergangenheit die Zukunft von gestern, die Zukunft die Vergangenheit von morgen. Sie sind eins – das Wissen und der Traum.
Gegenwart, subst.fem. Jener Teil der Ewigkeit, der den Bereich der Enttäuschung von jenem der Hoffnung scheidet.
Zukunft, subst. fem. Jene Zeit, in der unsere Geschäfte gut gehen, unsere Freunde treu sind und unser Glück gesichert ist.
Nun gibt es drei Auffassungen von dieser Dreiteilung, die wir grafisch darstellen. Die erste Auffassung entspricht den Schillerschen Worten:
Subjektive Zeit: feste Vergangenheit, scharfe Gegenwart, unbestimmte (gestaltbare) Zukunft
So erleben wir die Zeit, aber damit kann ein Physiker wenig anfangen, denn wo ist in der unbelebten Natur die scharfe Grenze zwischen Gegenwart und den anderen Zeit-Feldern? Der Physiker bevorzugt das Einstein-Minkowskische Blockuniversum, das so aussieht:
Objektive Zeit: kein Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft. Alles „ist“ bereits.
Dies ist strengster Determinismus, der sowohl den freien Willen verbietet als auch Zeitreisen (und im übrigen den Interpretationen der Quantenphysik widerspricht). Also schlagen wir eine dritte Variante vor, die so aussieht:
Quantenzeit: kein Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft. Alles ist unbestimmt; nur Messungen bringen Sicherheit – in der Vergangenheit.
Aber, so wird man einwenden: Die Vergangenheit ist schließlich, wir kennen sie, sie kann nicht geändert werden. Ob sie „ist“ (oder war?), wissen wir nicht, genauso wenig, ob sie geändert werden kann. Zumindest gibt es einen Versuch aus der Quantenphysik, der am besten durch einen Beeinflussung der Vergangenheit aus der Zukunft erklärt werden kann. Dazu gleich mehr. Und ob wir sie kennen, daran bestehen Zweifel. Sicher, wir haben Aufzeichnungen, aber stimmen die? Dokumente aus dem Früh- und Hochmittelalter sind bis zu 90% Fälschungen, aus politischen Gründen. Jesus ist eine mythologische Gestalt, möglicherweise eine Komprimierung verschiedener Heilsbringer. Der Islamwissenschaftler Karl-Heinz Ohlig bezweifelt, dass es Mohammed je gegeben hat. Andere meinen, Karl der Große sei eine rein mythologische Gestalt. Über sein Leben gibt es nur eine Biographie, und die ist nach den Biographien der römischen Kaiser gestaltet.
Und wie steht es mit Ihrem eigenen Gedächtnis? Richtet es sich tatsächlich immer, wie es soll, in die Vergangenheit, oder st manchmal auch Wunschdenken dabei – sprich: Erinnern Sie sich an die Zukunft? Die Weiße Königin aus Lewis Carrolls „Alice hinter den Spiegeln“ lebt rückwärts in der Zeit. In einem Gespräch mit Alice entspinnt sich folgender Dialog:
„Mein Gedächtnis reicht nur rückwärts“, bemerkte Alice. „Ich kann mich nie an etwas erinnern, bevor es geschieht.“
„Eine dürftige Art von Gedächtnis, wenn es nur nach rückwärts reicht“, stellte die Königin fest.
In den USA gab es eine zeitlang eine gefährliche Modeerscheinung innerhalb der Psychiatrie: Verschüttete Erinnerungen an Missbrauch in der Kindheit kamen plötzlich zum Vorschein, die entsprechenden Missetäter (Väter und Stiefväter) wurden daraufhin verurteilt. Bis einige mutige Psychologen der Sache nachgingen und feststellten: Es war alles Suggestion. Also: Wie zuverlässig ist das persönliche Gedächtnis?
Dazu kommt, dass die Definition der subjektiven Gegenwart schwierig wird. Sie kann nicht „unendlich dünn“ sein, das geht nur in der Mathematik. Drei Sekunden hält sie aber auch nicht an, das wäre viel zu lange. Versuche am Computer haben gezeigt, dass der Mensch immer gleichzeitig in der (unmittelbaren) Vergangenheit und in der (unmittelbaren) Zukunft lebt. Eine Gegenwart gibt es nicht. Vergangenheit: Wir brauchen einige Zeit, um uns Vorgänge und Bewegungen bewusst zu machen (ca. 1 ä Sekunden). Das ist viel zu lange für eine sinnvolle oder gar lebensrettende Reaktion. Also projiziert das Gehirn Bewegungen in die Zukunft, es prognostiziert, was kommen wird. Natürlich stimmen diese Prognosen nicht immer mit der Wirklichkeit überein, weswegen sie ununterbrochen korrigiert werden.
Jetzt zu dem erwähnten Versuch. Er nennt sich „delayed choice quantum experiment“, also etwa: Quanten-Experiment der verzögerten Entscheidung. Die Idee stammt wieder mal von Wheeler, und der Versuch wurde im Jahre 2006 tatsächlich durchgeführt. Die Sache ist die: Schickt man ein einzelnes Foton, also ein Licht-Quant, durch einen speziellen Kristall (Bariumborat), dann spaltet sich das Foton in zwei gleichwertige Fotonen mit halber Energie, also doppelter Wellenlänge. Diese beiden Fotonen sind nun für alle Zeiten und über alle Entfernungen miteinander verbunden, sie sind „verschränkt“, im englischen: „entangled“, was auch „verwickelt“ oder „verheddert“ heißt. Es bedeutet: ändert sich bei einem Foton irgendeine Eigenschaft,dann ändert sich diese Eigenschaft auch beim anderen Foton, und zwar augenblicklich. Einstein, dem dieses Phänomen nicht gefiel, nannte es „spukhafte Fernwirkung“.
Inzwischen wissen wir, dass Licht (aber auch Materie) immer eine Doppelnatur besitzt: Mal taucht es als Teilchen auf, das auf einer Fotoplatte scharfe Lichtpunkte erzeugt, mal als Welle, die zu Interferenzstreifen führt. Ob das Licht Teilchen- oder Wellencharakter besitzt, kann ein geschickter Experimentator selbst bestimmen, indem er in einem Doppelspaltversuch entweder einen Spalt abdeckt – dann entpuppt sich Licht als Teilchen und hinterlässt einen einzelnen Punkt als Spur seiner Existenz auf dem Schirm dahinter – , oder in- dem er beide Spalten offen lässt – dann agiert Licht als Welle und produziert ein Interferenzmuster auf dem Schirm. Dies gilt auch für ein einzelnes Foton, das mit sich selbst interferiert, obwohl man sich das schwer vorstellen kann. Aber Experimente zeigen: So ist es.
Hat also der Experimentator eines der beiden verwickelten Fotonen gezwungen, sich als Teilchen zu äußern, dann kann er sicher sein, dass dies auch für das andere gilt, obwohl man nicht so recht weiß, wie diese Information von dem einen Teilchen augenblicklich auf das andere übertragen wird. Doch jetzt kommt der Trick: Das eine Foton wird erst durch eine kilometerlange Glasfaserleitung geschickt, sodass es ein paar Millisekunden nach dem ersten Foton auf den Detektoren erscheint. Nun wird die Wahl – Teilchen oder Welle – an diesem verzögerten Foton vorgenommen. Das andere – frühere – Foton muss aber die gleiche Entscheidung treffen, und zwar vor der Wahl, weil es ja unverzögert, also früher, die Detektoren erreicht.
Die einfachste Erklärung für diese reichlich konfuse (und experimentell auch reichlich komplizierte) Angelegenheit liegt in der Annahme, das verzögerte Foton beeinflusse seinen Zwilling aus der Zukunft. Die Zukunft bestimmt also die Vergangenheit, was nicht zu Paradoxien führt, da sie die Vergangenheit ja nicht ändert. ändern heißt: Wir wissen, wie es war, und wir machen es jetzt anders. Das aber ist nicht möglich, denn den Zustand des früheren Fotons können wir nicht feststellen, ohne den ganzen Versuchsaufbau zu zerstören.
Man sieht: Eine Beeinflussung aus der Zukunft wäre physikalisch möglich.
Genau diese Idee hatte Wheeler schon viel früher. Aus der Wellengleichung ergibt sich nämlich, dass rein mathematisch auch Wellen zulässig sind, die nicht, wie eine normale Welle, von einem Punkt ausgehend ins Unendliche und in die Zukunft wandern („retardierte Wellen“), sondern sich genau umgekehrt verhalten: Sie kommen aus dem Unendlichen und aus der Zukunft und kulminieren in einem Punkt („avancierte Wellen“). Es ist, wie wenn Sie einen Film über einen Stein drehen, der ins Wasser fällt und Wellen erzeugt. Jetzt schauen Sie sich diesen Film von hinten nach vorne an: Die Wellen kommen unmerklich aus dem Nichts, werden immer stärker und kulminieren in einer gewaltigen Steilwelle, die einen Stein nach oben schleudert. Dieses Bild stammt von dem Philosophen Karl Popper, weshalb man auch von „Poppers Tümpel“ spricht.
Feynman hat diese Idee seines Lehrers mathematisch ausgearbeitet und festgestellt: Ein Kosmos, der zur Hälfte aus retardierten (normalen) und avancierten (umgekehrten) Wellen besteht, würde sich von dem, was wir sehen, nicht unterscheiden. Mit anderen Worten: Eine Beeinflussung aus der fernen Zukunft wäre denkbar (Ausführliches dazu siehe mein Buch über Symmetrien). Wie üblich, hatten SF- Autoren diese Idee viel früher. Jack Williamson postulierte schon 1942 in seiner Erzählung „Minus Sign“ den Zusammenhang zwischen Antimaterie und Zeitreisen bzw. Nachrichten in die Vergangenheit.
Zeitumkehr indes ist keine Science-Fiction-Idee, denn genau eine solche Zeitumkehr mit avancierten Wellen ist heute schon möglich und wird in der Medizin erfolgreich eingesetzt, wenn auch nicht mit Licht-, sondern mit Schallwellen. Mathias Fink vom Labor für Wellen und Akustik an der Ecole Superieure de Physique et de Chemie in Paris war der Pionier der Schallwellen-Zeitumkehr. Er hat das System hauptsächlich als Erweiterung der Ultraschall-Analyse gesehen und eingesetzt. Dabei wird ein Ultraschallimpuls auf ein Ziel geschickt (z.B. ein Organ im Inneren des Menschen). Die Schallwellen werden bei der Reflektion ziemlich zerstreut, weswegen eine genaue Messung oder gar ein korrektes Bild des Ziels schwierig ist. Doch Fink sammelte alle (retardierten) Wellen ein und schickte sie als (avancierte) zeitverkehrte Wellen wieder zurück. Der technische Aufwand dabei ist enorm: Jede einzelne Welle muss durch Detektoren erfasst werden, die rund um das Objekt verteilt sind. Alle reflektierten Wellen werden in einem Computer gespeichert. Dann wird die zuletzt angekommene Welle als erste wieder ausgesandt, die erste ist dann die letzte: Die Zeitumkehr nimmt also der Computer vor.
Die Methode funktioniert allerdings nur, wenn es keinerlei äußere Störungen gibt. Mit ihr können Schallimpulse ganz exakt gesetzt und wieder empfangen werden, sodass die gezielte Zerstörung von Nie- rensteinen möglich wird. Fink meint auch, man könne damit die Unterwasser-Kommunikation von U-Booten verbessern.
Im Übrigen ist eine Beeinflussung aus der Zukunft beim bewusst denkenden Menschen alltäglich: Wir nehmen uns ein Ziel vor, das in der Zukunft liegt (Beispiel: Ich möchte mit meinem Vehikel von A nach B), und dieser Gedanke beeinflusst im weiteren Verlauf unsere Handlungen. Die Zukunft wirkt hier auf die Gegenwart – aber Physiker würden das nicht als „Kausalität“ bezeichnen.
Zurück zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Weil alle drei vorgestellten Auffassungen ihrer Aufeinanderfolge unbefriedigend sind, schlage ich hier eine andere Möglichkeit vor: die Kristallisationstheorie der Zeit. Dabei ist die Zeit weder fest noch unbestimmt, sondern in einem ständigen Prozess der Verfestigung (= Kristallisation). Auch hier gibt es mehrere Möglichkeiten. So könnten wir uns die kristallisierte (in der Vergangenheit) und noch zu kristallisierende Zeit (in der Zukunft) so vorstellen:
Je weiter die Vergangenheit zurück liegt, desto unbestimmter, desto wandelbarer ist sie. Aber hier entdecken wir eine Diskontinuität: Die unmittelbare Vergangenheit und die unmittelbare Zukunft haben völlig unterschiedliches Aussehen. Wenn die Zeit aber kontinuierlich verläuft oder fließt, kann ein solches Schema nicht stimmen. Also modifizieren wir es auf diese Weise:
Das bedeutet: Die unmittelbare Vergangenheit ist am festesten und kann am wenigstens geändert werden. Die unmittelbare Zukunft lässt Möglichkeiten offen, aber nicht sehr viele. Je weiter wir in der Zeitachse vorrücken – egal, in welcher Richtung – , desto plastischer wird das bereits Geschehene oder noch zu Geschehende. Die ferne Vergangenheit ist ebenso unbestimmt wie die (nicht ganz so ferne) Zukunft. Was aber immer noch nicht erklärt, warum es einen Einschnitt namens „Gegenwart“ gibt und wie die Vergangenheit von der Zukunft her beeinflusst oder gar geändert werden kann.