Mehrere Physiker, die sich mit Zeitreisen beschäftigten, darunter Kip Thorne und Joseph Polchinski, haben in den 1980er und 1990er Jahren folgende Situation konstruiert (also für theoretisch möglich erklärt): Eine Billardkugel, nennen wir sie „Oskar-1“, wird durch die Öffnung eines Wurmlochs gestoßen. Sie kommt am anderen Ende der Raumzeitverbindung in der unmittelbaren Vergangenheit als Oskar-2 in einer solchen Bahn heraus, dass sie ihre eigene Bahn (also die von Oskar-1) stört, sodass sie nicht mehr ins Wurmloch fallen kann, sodass sie am anderen Ende auch nicht heraus kommt, sodass sie sich selber nicht stört, sodass sie also doch … ad infinitum. Mit anderen Worten: Die Physiker haben, ganz ohne Einwirkung des freien Willens, das Zeitparadoxon erschaffen. Und wie haben sie sich heraus gewunden?
Eigentlich könnte man das, was ihnen einfiel, schamvoll verschweigen, so dumm sind die Ideen der grööten Denker des 20. Jahrhunderts. Ich will nur zwei erwähnen, die alle auf das gleiche hinauslau- fen, auf das „Morgenstern-Prinzip“. In dem Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ von Christan Morgenstern wird dessen Antiheld Palmström „an einer Straßenbeuge und von einem Kraftfahrzeuge“ überfahren. Im Krankenhaus studiert Palmström die Verkehrsordnung und muss erkennen, dass an diesem Ort gar keine Autos fahren durften. Der Schluss des Gedichts ist in die Deutsche Sprache eingegangen:
Und also schließt er messerscharf dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
So ähnlich argumentiert Igor Novikov mit seinem „Prinzip der Selbst-Konsistenz (= Widerspruchsfreiheit)“. Es besagt: Zeitparadoxa kann es nicht geben, weil es sie nicht geben darf. Auf dem gleichen Nivo bewegt sich Stephen Hawkings „chronology protection conjecture“, auf deutsch etwa: die Vermutung, dass die korrekte Abfolge von Ereignissen gewahrt bleibt, und zwar durch die bestehenden Naturgesetze. Und das war’s.
Da wollen wir doch unser Hirschmalz einsetzen und zeigen, wie man dem Paradoxon entgehen könnte. Zur Erinnerung noch mal die Situation, also Bild 3 des vorigen Kapitels:
Ersetzen wir nun Oskar-1 und Oskar-2 durch Elektronen, Oskar-X durch ein Positron, so müssten wir Elektron-2 an der Stelle tT vernichten, was nicht ganz einfach ist, denn Elektronen sind ziemlich zählebig. Indes, es genügt, Elektron-1 (unten) an der Kollision mit dem Positron (zur Zeit t2) zu hindern, z.B., indem wir es in seiner Bahn ablenken. Wie das geschieht, soll uns nicht kümmern; es genügt, wenn Elektron-1 aufhört, für das Positron eine Gefahr darzustellen. Dann haben wir eine ähnliche Situation wie beim Zeitparadoxon mit den drei Oskars, und die sieht so aus:
Bild 12: Das Zeitparadoxon mit zwei Elektronen und einem Positron als „Zeitreisendem“
Ein verblüffendes Bild: Das Zeitparadoxon betrifft weder Oskar-1 noch Oskar-2, sondern den zeitreisenden Oskar-X in seiner Schattenwelt! Und der hat, von seinem Standpunkt aus („Zeitreiselogik“), eine unendliche Vergangenheit, von unserem Standpunkt aus (Kausallogik) eine unendliche Zukunft in seinem Zeitreise-Schattenreich:
Bild 13: Das Zeitparadoxon gelöst
Sollte dieses Bild zutreffen, sollten also die Wheeler/Feynman- Analogien etwas taugen, dann ergeben sich daraus ein paar höchst nüchterne Schlussfolgerungen. Zum Beispiel:
– Um in der Zeit rückwärts reisen zu können, muss der Zeitreisende erst in Antimaterie verwandelt werden. Der Energieaufwand dazu entspricht dem Gegenwert von einem Dutzend Wasserstoffbomben. Isaac Asimov hat das erkannt und in seinem Roman „Am Ende der Ewigkeit“ als Energiequelle für seine Zeitreise-Schächte eine Supernova (die eigene Sonne in ferner Zukunft) verwendet. Zudem ist kaum vorstellbar, wie der Zeitreisende vor den Atomen der normalen Welt geschützt werden kann und wie die frei werdende Energie zur Zeit t2 entsorgt werden soll.
Sollte der Zeitreisende allerdings aus „Schattenmaterie“ oder gar „Spiegelmaterie“ bestehen, dann wäre die Sache anders. Auch dazu gibt es interessante Spekulationen ernsthafter Physiker, siehe dazu Literatur „Foot, Robert“ sowie das Kapitel “ Robert Foot: Schattenwelten“ in meinem Buch „Symmetrien“.
– Die Zeitreise in die Vergangenheit muss offenbar in der Vergangenheit initiiert werden. Das schränkt Zeitreisen erheblich ein, unter anderem nur in den Teil der Vergangenheit, in dem Zeitreisen schon möglich sind.
– Auftretende Selbst-Interferenzen („Zeitparadoxa“) können dazu führen, dass Zeitreisende in einer Schatten- oder Spiegelwelt für immer verloren gehen.
Nicht den Mut verlieren: Unsere Überlegungen sind genauso spekulativ wie diejenigen aller andern, Wissenschaftler wie Schriftsteller. Wenden wir uns lieber den erstaunlichen Gedankengängen versierter SF-Autoren zu …