Pans Flöte

Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo du weidest, wo du ruhest am Mittag, damit ich nicht herumlaufen muss bei den Herden deiner Gesellen.

Hohelied 1,7

Das kleine Mädchen zog mühsam einen Karren hinter sich her. Der Strand war leer, das Meer ruhig, die Pinienwälder verlassen. Ein leiser Wind strich vorsichtig durch die Sandkörner, verfing sich in den Zweigen der duftenden Pinien, verlor sich im Ozean. Ein Albatros saß auf einem Felsen und betrachtete grimmig die Landschaft. Nach einiger Zeit breitete er seine großen Flügel aus und flog davon.

Das kleine Mädchen blieb stehen und nahm eine Flöte aus dem Karren. Es war eine alte Flöte, wie sie früher die Griechen zu Ehren des Gottes Pan verwendet hatten. Nicht das, was wir als „Panflöte“ bezeichnen, nur ein Rohr mit Löchern drin. Das kleine Mädchen versuchte einen Ton zu erzeugen, aber nichts kam heraus. Während es sich abmühte, saß ein kleiner Skorpion regungslos auf dem Geländer des Karrens, und es sah so aus, als o

Das Mädchen gab seine Versuche schließlich auf. Wütend warf es die Flöte in den Sand, wo sie auf einen darunter verborgenen Stein fiel und in zwei Teile zerbrach. Fassungslos starrte das Mädchen auf die zerbrochene Flöte, dann legte es sich in den Sand und fing an zu weinen.

Der kleine Skorpion wurde lebendig. Behände lief er die Deichsel des Wagens entlang, mit aufgepflanztem Stachel und griffbereiten Scheren. Dann schlüpfte er unbemerkt in die Flöte hinein, und nur eine Schere ragte noch kurze Zeit aus einem Blasloch hervor.

Der kleine Skorpion wurde lebendig. Behände lief er die Deichsel des Wagens entlang, mit aufgepflanztem Stachel und griffbereiten Scheren. Dann schlüpfte er unbemerkt in die Flöte hinein, und nur eine Schere ragte noch kurze Zeit aus einem Blasloch hervor.

Dass ich erkenne, was die Welt
im Innersten zusammenhält.
Goethe: Faust

Forscher sind Menschen, die ewig nach der Wahrheit suchen, was immer sie auch darunter verstehen mögen. Der eine sieht darin die Entdeckung eines neuen Prinzips oder Teilchens oder Tieres, und damit möchte er von seinen Kollegen Ansehen (und von seiner Gemeinde Geld) erlangen. Für den anderen besteht die Wahrheit in einer blitzartigen Erkenntnis, und er nennt sie „Erleuchtung“ (oder Satori oder wie auch immer). Der Held unseres Märchens – wir wollen ihn den „Forscher“ nennen – war Physiker und Mathematiker und suchte seit Jahren nach der „Weltformel“. Das ist eine mathematische Formel, mit der man alle Vorgänge dieser Welt beschreiben und vorausberechnen kann. Alle Physiker träumen davon, aber nur wenige haben das Talent und die Ausdauer, diese magische Formel auch wirklich zu suchen. Und nur ganz wenigen ist es gegeben, sie auch zu finden. Unser Forscher war einer von ihnen, doch – aber wir wollen nicht vorgreifen. Hört denn die seltsame Geschichte von der Suche nach der Weltformel. Verzweifelt nicht, denn die Weltformel ist eine komplizierte Sache, und die klügsten Geister des Abendlands haben sich an ihr versucht. Erfahrt, was das kleine Mädchen mit der zerbrochenen Flöte damit zu tun hat, und staunt über das, was der Forscher dabei zuletzt fand!

Der Forscher wusste, wo er bei seiner Suche ansetzen musste. Den Traum von der Formel, die alles beschreibt, hatte in dieser Klarheit als erster der geniale Physiker und heimliche Romantiker Albert Einstein geträumt. Und seine Formel konnte auch alle physikalischen Kräfte seiner Zeit auf ungemein elegante, ja ästhetische Weise erklären. Die Welt besteht bei ihm aus

einem Raum mit vier Dimensionen (die vierte ist die Zeit), der sich krümmt und durch seine komplexe Struktur alle Erscheinungen der unbelebten Natur hervorruft, die wir im täglichen Leben erfahren können.

Doch dann wurden im Innern der Atome neue Kräfte entdeckt, die Einsteins Formel nicht erfasste. Ein anderer deutscher Physiker, Burkhard Heim, nach einer Explosion blind, taub und ohne Arme, arbeitete in der Dunkelheit seines körperlichen Gefängnisses dreißig Jahre an dem Problem, und ihm gelang das Unmögliche: Er vereinte die Kräfte des Mikrokosmos mit den Kräften des Makrokosmos. Auch seine Formel war einfach, elegant, auf unglaubliche Weise schön und faszinierend. Mehr noch: Mit seinen beiden zusätzlichen Dimensionen (eine für den Realitätsgrad der Welt, eine für die Nummer der Parallelwelt, in der sich das Ereignis abspielt) konnte er auch Phänomene erklären, die für andere Physiker tabu waren: Telepathie, Psychokinese, sogar Magie. Die Weltformel war gefunden, auch wenn die Fachwelt nichts davon wusste oder wissen wollte.

Die Formel war einfach, elegant, auf unglaubliche Weise schön und faszinierend. Mehr noch: Sie konnte auch Phänomene erklären, die für andere tabu waren: Telepathie, Psychokinese, sogar Magie. Die Weltformel war gefunden.

Burkhard Heim: Welt-Selektorgleichung, einheitliche strukturelle Quantenfeldtheorie der Materie und Gravitation

Der Forscher war glücklich. Die Forschung war am Ziel, die Wissenschaft hatte triumphiert, die Mathematik konnte alles erklären. Eine zeitlang sonnte er sich in diesem Gefühl der Seligkeit (während er versuchte, die Heimschen Theorien zu verstehen, was nicht ganz leicht war, denn es war alles neu, sogar die Mathematik). Doch nach einiger Zeit kamen ihm erste Zweifel. Unser Forscher hatte nämlich entdeckt (spät, aber nicht zu spät), dass es neben der unbelebten Natur auch noch andere Erscheinungen gab. Menschen zum Beispiel, mit Gefühlen wie Hass, Liebe, Hoffnung und Angst. Was sagte die Formel dazu? Die Formel schwieg, denn derjenige, der sie gefunden hatte, hielt nichts von Gefühlen. Also kamen sie in seinen Symbolen auch nicht vor.

Der Forscher erkannte, dass seine Suche noch gar nicht begonnen hatte. Und nun erfuhr er die Schwierigkeit einer solchen Suche: Wo sollte er beginnen? Der Forscher wagte sich zunächst in ein Gebiet, von dem er etwas verstand und wo er sich Klarheit, Wahrheit und Exaktheit erhoffte (zu Recht, muss man ihm zugestehen): in die Mathematik. Nirgendwo findest du solche Präzision, solche kristallklare Vernunft, solchen Mut bei der Verfolgung von Konsequenzen, so fantastische Konzepte wie hier. Der Forscher entdeckte eine wenig bekannte mathematische Theorie mit dem obskuren Namen „Lambda-
Kalkül“, die ihn sofort in ihren Bann schlug. Alles war dort sehr einfach. Mit einigen wenigen Bausteinen – es gab „Dinge“ und „Operatoren“, die diese Dinge bewegten – und mit einigen wenigen Operationen – Vertauschen, Verdoppeln, Vernichten – konnte die gesamte Mathematik aufgebaut werden.

Aber was ihn wirklich in seinen Bann schlug, war ein Operator, der den schlichten Namen „Y“ trug. Dieses Y fand in jedem anderen Ding einen Fixpunkt, eine Stelle, die sich nicht mehr veränderte, egal, was man mit diesem Ding auch tat. Vertauschungen der Elemente, Verdoppeln, Vernichten, all das tat dem Fixpunkt nichts. Eine Stelle gab es in jedem Ding, die immer stabil blieb.

Für den Forscher war diese Erkenntnis eine Art Offenbarung. Übertrug man sie auf den Menschen (und in der Mathematik sind solche Dinge erlaubt), dann hieß dies nichts anderes, als dass es in jedem Menschen einen Punkt, eine Stelle, einen Teil gab, der sich niemals änderte – auch nicht nach dem Tod. Die unsterbliche Seele des Menschen, das unveränderbare Selbst, der göttliche Kern einer jeden Seele – es war mathematisch bewiesen. Mehr noch: Wenn es ihm gelang, das „Y“ (den Fixpunkt-Operator) in der Wirklichkeit zu finden, dann hatte er eine Formel für die Unsterblichkeit. Und das war immerhin wichtiger als eine Formel, die alle Kräfte der Natur beschrieb. Der Fixpunkt ging weit darüber hinaus: Hier war der Ansatz zur Ewigkeit, zur Wiedergeburt, ja zu Gott.

Der Forscher erlebte nun – wie alle Forscher von Zeit zu Zeit – eine neue Besessenheit. Finde das „Y“ – einen Prozess, ein Ding, einen Vorgang, eine Methode – die es dir gestattet, den unsterblichen Teil eines jeden Menschen auf sozusagen mathematische Art zu extrahieren. Der Forscher – immer noch naiv und wissenschaftsgläubig – stellte sich eine Art Maschine vor, an die man jeden Menschen anschloss, woraufhin dieser zur Erkenntnis seines wahren Selbst, also zur Erleuchtung käme. Und die Mathematik hatte ja bewiesen, dass es ein solches Gerät geben müsste. Man musste es nur bauen.

Bestätigt wurde der Forscher durch einen Ingenieur, der eine Methode gefunden hatte, die Grundinformation eines jeden Dings, sei es ein Apfel, ein Heilmittel, der Inhalt einer Melodie oder die Aura eines Menschen, durch Schwingungen auf andere Dinge oder Menschen zu übertragen. Dabei hatte der Ingenieur eine Universalform gefunden, die alle Energien von außen in etwas Harmonisches, Beständiges, immer Gleiches transformiert. Diese Grundform sah aus wie ein Y – eine Art Amulett gegen alles und jedes. Der Forscher war überzeugt: Y war der Schlüssel zum Geheimnis der Ewigkeit.

Ein paar Zweifel kamen ihm aber doch. Denn die Definition des ominösen „Y“ enthielt ein Glied, das ihn beunruhigte. Dieses Glied drehte sich ewig im Kreis, kam zu keinem Ende, war ein, wie die Fachleute sagen, „irreduzibler Term“. Einen Moment lang blitzte eine ganz große Erkenntnis in seinem Geist auf, verschwand aber sofort wieder. Sein Geist war noch nicht reif dafür. Und wer für eine wirklich große Erkenntnis noch nicht reif ist, der wird verrückt, wenn er sie zulässt. Dagegen schützt sich der menschliche Geist durch Vergessen.

Das schönste Erlebnis ist die Begegnung
mit dem Geheimnisvollen. Sie ist
Ursprung jeder Wissenschaft

Albert Einstein


Sein bewusster Verstand aber beschäftigte sich weiter mit dem Problem. Wie kann, so fragte er sich, etwas, das Stabilität sucht (und findet) aus Dingen bestehen, die zum ewigen Kreislauf verdammt sind? Aus dieser Fragestellung seht ihr schon, dass unser Forscher ein sehr westlicher Mensch war. Wie kann etwas weiß sein, das schwarz ist? Eine solche Frage würde ein Weiser aus dem Osten niemals stellen, denn für ihn gibt es kein „entweder – oder“. Für die Menschen Chinas, Indiens, Tibets und Japans sind weiß und schwarz Manifestationen des gleichen Prinzips, Gut und Böse Erscheinungen des gleichen göttlichen Urgrunds. Doch unser Forscher war noch nicht so weit.

Immerhin hatte die intensive geistige Beschäftigung mit dem Fixpunktoperator auf ihn die gleiche Wirkung wie die Zen-Meditation über einen Koan, also das Nachdenken über ein Problem, das garantiert keine Lösung zulässt. Wie klingt es, wenn eine Hand klatscht? Wie kann ein ewiger Kreislauf zu einem ewigen Ruhepol führen? Denke Tag und Nacht darüber nach, und du wirst zuletzt verzweifeln. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass dein Verstand seine vergeblichen Versuche aufgibt. Dann endlich ist die Zeit gekommen, wo deine Seele tätig werden und dir die wahre Erkenntnis vermitteln kann. Denn der Verstand ist bestenfalls ein Diener, schlimmstenfalls ein lästiger Narr, wie eine Heilige des Abendlands sehr gut erkannte.

Dem Helden dieser Geschichte erging es ebenso. Seine Schutzgeister hatten ihm wohl das Fixpunkt-Operator-Koan zugedacht, und er wurde daran fast irre. Zuletzt schrieb er überallhin – auf Servietten, Fahrkarten, Reisepläne und Hemdsärmel – die Formel für den Fixpunktoperator. Bis ihm eine Nachts, er wachte plötzlich auf, die rettende Idee kam: Wechsle deine Forschung radikal, tu etwas völlig anderes.

Jesus sagte: Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Pilatus aber sprach zu ihm: Was ist Wahrheit?
Johannes 18,36-37

Zufällig (aber ihr wisst ja, dass es keinen Zufall gibt) erzählte ihm eine Bekannte ganz begeistert von ihrer Sitzung mit einer Wahrsagerin. Sie hätte ihr nicht nur die Vergangenheit bis in Einzelheiten korrekt gesagt, sondern auch Ereignisse prophezeit, die keineswegs selbstverständlich wären und von denen einige schon eingetreten waren. Mehr aus Verzweiflung denn aus Neugier oder gar Interesse suchte der Forscher jene Dame auf. Sie saß, besser: residierte in einem Zimmer mit ausgestopftem Raben und (lebender) schwarzer Katze. Das ganze Ambiente war dem Forscher unangenehm, und als sie auch noch ihre Kristallkugel hervorkramte und hypnotisch hineinstarrte, da wollte er schon wieder gehen. Aber er blieb. Die Wahrsagerin sagte ihm etwas Seltsames, und das gab ihm zu denken. Sie erzählte ihm nichts von der großen Liebe oder einem Lottogewinn, sondern behauptete, in der Kugel ein Schild gesehen zu haben, auf dem die Worte „KABALA“ stünden. Das, so ihre beschwörenden Worte, sei für ihn der Schlüssel, und wenn er das Geheimnis dieser Sache ergründet habe, werde sich sein Leben grundlegend ändern.

Nachdenklich verließ der Forscher die Pseudo-Magier-Wohnung. Offenbar sollte er sich mit der Kabbala beschäftigen, mit der jüdischen Überlieferung mystischer Erfahrungen, kurioser Theorien und astrologischer Symbolik. Aber warum stand das Ganze auf einem Schild? Unser Forscher besorgte sich Bücher über Kabbala und Astrologie, über Numerologie und Alchemie, über Hermetiologie und Magie, und was es alles gab. Die meiste Zeit ekelte er sich über den schwülstigen Unsinn, den gelehrte Männer mit allem Nachdruck vertraten, und er, der die Klarheit mathematischer Präzision gewohnt war, wunderte sich über die Verschwommenheit des Denkens dieser Leute.
Er dachte daran, dass er seinen scharfen Verstand aufgeben und ebenso verschwommen denken sollte, aber das schaffte er nicht. Und eines Tages wusste er, dass er es auch nicht schaffen brauchte. Denn diese Mystiker stammten alle aus der Tradition des Abendlands, und das Abendland denkt dualistisch. Mit einer solchen Einstellung aber kann man nicht verschwommen, auch nicht ganzheitlich denken. Also musste er entweder die Denker des Ostens studieren oder aber Klarheit in das Durcheinander mystischer Traditionen bringen. Aber bevor er sich für das eine oder andere entscheiden würde, wollte er erst mal Urlaub machen.

Das Dauerhafte ist nichts anderes
als viele Momente
Bhagwan Shree Rajneesh

Aus einem der Blaslöcher der zerbrochenen Flöte lugte plötzlich der kleine Skorpion hervor. Einladend winkte er mit seinen Scheren. Das kleine Mädchen hörte auf zu weinen, sah den Skorpion und wollte ihn zwischen die Finger nehmen. Doch der Skorpion schlüpfte zurück ins Innere der Flöte, kam an einem anderen Loch wieder zum Vorschein, blieb stehen, um dann wieder wieselflink zu verschwinden. Das kleine Mädchen versuchte ihn zu fangen, aber vergeblich. Zuletzt musste es lachen, denn das kluge Tier war gar zu lustig. Und der Schmerz über die zerbrochene Flöte war verflogen.

Aus einem der Blaslöcher der zerbrochenen Flöte lugte plötzlich der kleine Skorpion hervor. Einladend winkte er mit seinen Scheren.

Liebe bedeutet, in eine Heimat zurückzukehren, die wir nie verlassen hatten, und uns daran zu erinnern, wer wir sind.
Sam Keen: Die Lust an der Liebe

Griechenland musste es sein! Griechenland war zivilisiert und abendländisch, hatte aber auch noch etwas Wildes an sich. Der kühle Verstand eines Sokrates paarte sich auf elegante Weise mit der Wildheit seiner alten Götter, die sicher noch irgendwo in den tiefen Wäldern hausten.

Aber wohin? Der Forscher nahm eine Landkarte heraus und saß gedankenverloren davor. Sein Geist zog sich zurück, sein Zustand glich dem eines Meditierenden. In diesem Zwischenreich zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Traum und Wirklichkeit gelingt es den Schutzgöttern, die Führung zu übernehmen und den Menschen dorthin zu bringen, wo er im Augenblick sein sollte.

Der Forscher erwachte mit einem Ruck. Ein Gefühl der Panik machte sich breit. Er hatte etwas gesehen, und es hatte ihn tief verschreckt. Was war es? Ein Traumbild, eine Ahnung, ein Name auf der Landkarte? Der Forscher sah sich um. Plötzlich fiel ihm ein kleiner Küstenort auf. „Kavalla“ hieß er. Schrieb man ihn mit griechischen Buchstaben, lautete sein Name (wieder in lateinische Buchstaben übertragen):
KABALA. Kabala! Die Wahrsagerin hatte diesen Namen auf einem Schild gesehen, einem Ortsschild. Kabala/Kavala war nicht die geheime Überlieferung der Juden, sondern ein Ort in Griechenland!

So kam der Forscher nach Kavala, einer mittleren Küstenstadt mit vielen Touristenhotels, und machte es sich mit Rucksack und Zelt bequem. Er trank Kaffee mit den Griechen und sah den Fährschiffen zu. Glücklicherweise war er inzwischen so weit, dass er den Verstand, diesen lästigen Narren, von Zeit zu Zeit abstellen konnte. Als er dies eines Nachts (der Mond schien voll auf das Meer) wieder tat, hatte er die nächste Eingebung: Kavala war nur der Ausgangspunkt, nicht das Ziel seiner Reise.

Am nächsten Tag bestieg er die Fähre zur Insel Thassos. Auf einem kleinen Hügel ihrer malerischen Hauptstadt Limenas fand er den in einen Felsen geschnittenen Grottentempel des Hirtengotts Pan. Tief in der Grotte, fast schon im Dämmerlicht, entdeckte er ein Relief. Der Gott der Hirten saß auf einem Stein und blies auf seiner Flöte. Rundherum saßen seine Ziegen und hörten ihm zu. Versunken stand der Forscher da und glaubte selbst, die Ahnung einer Melodie zu hören, eine windverwehte Sequenz von Tönen, die ihn tief anrührte. Irgendetwas Entscheidendes, das wusste er, ging in ihm vor. Seine ganze Persönlichkeit begann sich zu verändern – oder sollte man sagen, begann sich zu formen? War es nicht so, dass er bisher die ganze Zeit geschlafen hatte, obwohl sein Verstand hellwach war? Oder hatte ihn die Wachheit seines Denkens verblendet und gar daran gehindert, mit seiner Seele, mit seinem ganzen Wesen zu erwachen?

Anschließend besuchte unser Forscher das antike Amphitheater. Als er mitten auf der Bühne stand und in die leeren Zuschauerreihen blickte, glaubte er, mitten zwischen den uralten Bäumen etwas wahrzunehmen. Zu sehen war nichts, aber das Dunkel und das Schweigen, das über dem Theater und besonders über dem Zuschauerraum lag, schien an dieser Stelle noch dichter, noch abgeschlossener, noch intensiver. Etwas, jemand – ein Wesen, eine Macht, saß da oben unsichtbar und groß und sah ihn an.

Der Forscher stieg zu dieser Stelle hinauf, fand oder fühlte aber nichts. Eine Weile saß er auf dem Brett, das über die alten Steine gelegt war, und plötzlich brach das Brett durch. Der Forscher stolperte, gewann sein Gleichgewicht und wollte schon gehen. Da sah er ein paar seltsame Zeichen in dem Stein unter dem Brett. Sie waren zu regelmäßig für eine zufällige Naturerscheinung. Und mit Zeichen kann ein Forscher, besonders einer, der die Symbolik der Mathematik kennt, gut umgehen.

Der Stein war auseinandergebrochen, doch beide Teile waren noch vorhanden und passten auch zusammen. Nach einiger Mühe rekonstruierte er die Symbole, wobei er auch die Bruchlinie zwischen den Steinen einzeichnete. Was dabei herauskam, sah etwa so aus:

Der Forscher begann, die Symbole zu deuten. Die Sprache war ihm allerdings nicht bekannt, aber inzwischen hatte er so viele Sprachsysteme kennen gelernt, dass es ihm nicht schwer fiel, Verbindungswege herzustellen.

Das Ganze sah wie ein Y aus, und damit hatte er wieder sein ominöses Symbol für Festigkeit und ewigen Wandel. Die Buchstaben deutete er nach vielen vergeblichen Versuchen als Ziffern. So kam er (da er das altgriechische System der Nummerierung kannte) auf die Zahl 47. Nach vielen weiteren vergeblichen Versuchen deutete er die Zahl als Ordnungszahl. So kam er auf das Element Silber.

Das abgerundete Y erschien ihm wie eine Quelle, aus der Blasen aufstiegen. Aber irgendeine Grenze hinderte sie am Entkommen. Das Symbol könnte aber auch das astrologische Zeichen für „Widder“ sein (unter dem unser Forscher geboren war) oder für den Höllenplaneten „Pluto“ (den er im Augenblick gerade intensiv erlebte).

Eine Deutung fiel ihm spontan ein: Finde die Quelle der Silberblasen und entferne die Sperre. Aber was war das für eine Quelle? Abends saß er am Meeresstrand und blickte in den Mond und seine Spiegelungen. Durch die Kräuselungen des Wassers sah es so aus, als ob ununterbrochen silbrige Blasen aus der Tiefe stiegen. Silberblasen! Und das Element Silber war in der alten hermetischen Überlieferung dem Mond zugeordnet!

Jetzt war er ein Stück weiter. Die Lösung lag in einem Bereich, zu dem der Forscher ganz langsam einen immer besseren Zugang fand: im Bereich der Seele. Denn der Mond beherrschte auch das Auf und Ab der Gefühle, der Stimmungen, der Ahnungen, des fröhlichen Lachens ebenso wie der dunklen Mächte (die durch Pluto, den Gott der Unterwelt, noch verstärkt wurden). Jetzt musste er nur noch die Sperre entfernen, die die Blasen in seinem Innern am Aufsteigen hinderten. Aber wie?

Der Stein war auseinandergebrochen, doch beide Teile waren noch vorhanden und passten auch zusammen. Nach einiger Mühe rekonstruierte er die Symbole.

Wir haben nur die Welt, die wir zusammen mit anderen hervorbringen, und nur Liebe ermöglicht uns, diese Welt hervorzubringen.
Varela/Maturana: Der Baum der Erkenntnis

Das kleine Mädchen griff nach dem Flötenstück und schüttelte es heftig. Vielleicht kam der Skorpion dann heraus. Aber es klingelte nur und eine kleine Silberkugel fiel in den Sand. In ihr bewegte sich etwas, und die Kugel begann von sich aus zu rollen. Es sah so aus, als hätte sich der Skorpion in ihrem Innern versteckt und triebe seine Scherze jetzt auf diese Art weiter.

Das kleine Mädchen griff nach der Kugel, aber sie rollte davon. Sie lief ihr nach in fröhlicher Jagd und übersah dabei den Schatten hinter ihr. In dem Augenblick, da sie die Kugel erhaschte, griff ein Arm nach ihrer Hand. Erschreckt drehte sie sich um.

„Du sitzt auf einem Dorn.“ sagte der Forscher.

„Ich stech‘ dich gleich!“ rief das kleine Mädchen und umklammerte die Kugel.

„Gib mir die Kugel.“ sagte der Forscher.

„Bitte sehr“ sagte das Mädchen und hielt ihm die geschlossene Faust hin. Langsam öffnete sie die Hand, und der kleine Skorpion sprang heraus, direkt auf den Forscher zu, und versteckte sich zwischen seinen Kleidern. Der Forscher riss sich Hemd und Hose und die Unterwäsche vom Leibe, aber das flinke Tier blieb verschwunden. Dann sah er auf das kleine Mädchen, sah ihren schlanken Körper, die sonnenverbrannte Haut und den hungrigen Blick in ihren Meeresaugen.

„Kennst du die Quelle?“ fragte er. „Komm“‚ sagte sie und nahm seine Hand, und etwas Seltsames geschah. Entweder wurde der Forscher kleiner und jünger, oder das Mädchen wuchs vor seinen Augen heran und war kein kleines Mädchen mehr. Vielleicht war es auch beides zugleich, denn im Lande Pans geschehen manchmal Wunder, besonders an einsamen Küsten tief im Süden von einsamen Inseln, wo niemand sonst die Ruhe der Natur (und ihrer Götter) stört.

Sie führte ihn über die Klippen aus weißem und rotem Marmor, über schwarzglänzende Steine mit Goldlamellen, die im Sonnenlicht aufblitzten, bis zu einer Grotte im Meer. Dort setzten sie sich in die untergehende Sonne und sie schmiegte sich an ihn und er spürte die Wärme ihres Körpers und die Verlorenheit ihrer Seele. Und mit einem Mal wusste er, dass er die Quelle der Silberkugeln entdeckt hatte, den Brunnen der ewigen Jugend, den Ort, wo alles beginnt und alles endet. Er spürte, wie sie in seinem Inneren aufstiegen, und jede Blase war eine Welt für sich, ein Universum der Harmonien, der Freude, des Lachens, der Versunkenheit und des Davonschwebens.

Der Forscher hatte das Geheimnis der Weltformel, den Fixpunkt der Welt, die Methode zur Voraussage aller Möglichkeiten, gefunden, nach langer, aber nicht vergeblicher Suche. Und es war so einfach: Jeder Augenblick war in sich geschlossen, war eine Blase aus erfüllter Zeit, eine Monade, die für sich, in sich und mit sich existierte. Nichts brauchte vorausgesagt werden, denn es gab keine Zukunft. Nichts brauchte erklärt werden, denn es gab keine Vergangenheit. Nur die Gegenwart war da, der Augenblick, der sich zur Ewigkeit dehnt, der die Ewigkeit ist.

Er sah in die Augen der Frau und sah den blauen Himmel und das Lachen eines Kindes und die Sinnlichkeit einer Nixe. Die Frau dachte und lachte wie ein kleines Mädchen, unschuldig und aus vollem Herzen, aber sie hatte den vollendeten Körper einer Nymphe und die Leidenschaften eines Wesens aus der Tiefe. Vielleicht war sie eine in Menschengestalt verzauberte Meerjungfrau, vielleicht eine Gespielin des Meeresgottes Poseidon. Am wahrscheinlichsten aber gehörte sie zum Gefolge Pans – jenes Gottes des sanften Flötenspiels und der wilden Leidenschaft, der den harmlosen Hirten zur Mittagsstunde durch sein plötzliches Erscheinen einen panischen Schrecken einjagt. Doch Pan und sein Gefolge sind so natürlich wie die Wälder, in denen sie leben. Aber die Menschen haben den Anschluss an die Natur verloren, und darum fürchten sie sich davor. Sie fürchten das klingende Lachen und die warmen Magmamassen, die aus der Tiefe des Herzens quellen können. Sie haben Angst, sich die Finger zu verbrennen. Sie wollen Flachheit und Bequemlichkeit.

„Wir haben uns so lange gesucht.“ sagte er.

„Ich habe gewusst, dass du kommst.“ sagte sie.

Zweifel kamen auf, eine Andeutung von Angst. Wie lange würden sie zusammenbleiben, wann würden sie sich wieder verlieren? Doch dann musste er lachen, denn er wusste die Antwort. Sie würden für immer zusammenbleiben, denn sie waren gerade jetzt zusammen. Und jeder Augenblick war eine Ewigkeit.

Die Zeit stand still, die Wellen spülten an den Strand, der Wind strich über ihre nackten Körper, und die Luft war erfüllt vom Geruch des Pinienharzes. Sie saßen da, und ihre Körper verschmolzen miteinander wie zwei Lavaströme, die lange Zeit einsam durch das Tal flossen und sich jetzt vereinen auf dem Weg zum unendlichen Meer der Träume und Hoffnungen, des Weinen und des Lachens, des Badens und des seligen Trocknens in den Strahlen der Sonne. Sie saßen da und lauschten den Klängen von Pans Flöte im Inneren ihrer Seelen.

Ihre Körper verschmolzen miteinander wie zwei Lavaströme, die lange Zeit einsam durch das Tal flossen und sich jetzt vereinen auf dem Weg zum unendlichen Meer der Träume und Hoffnungen, des Weinen und des Lachens, des Badens und des seligen Trocknens in den Strahlen der Sonne.

ENDE