Der Traum des Schwarzen Königs

Sind die Figuren unserer Träume real?
Haben sie Gefühle, gar Bewusstsein?
Und was geschieht, wenn wir erwachen?
Sterben sie, oder bleiben sie in einer Traumwelt am Leben?
Oder umgekehrt: Sind wir vielleicht nur
Figuren eines träumenden Gottes?
Und was geschieht, wenn dieser Gott eines Tages erwacht?

Nacht

Die Nacht war schwarz und tangohaft verhangen. Die Fensterläden hingen starr in der schiefen Dunkelheit. Ihr Schweigen drückte von innen, als ob es dem Gefängnis der Finsternis entkommen wollte. Das Kopfsteinpflaster glänzte von Zeit zu Zeit, lachenübergossen. Auch wer gute Augen hatte, konnte nicht wissen, ob er durch Wasserpfützen trat oder in Blut watete. Eine Katze, dunkel glühend wie die Nacht, schlich scheu am Randstein entlang. Aus einer offenen Tür quoll roter Schein, düster und erstarrt. Die zerquetschten Töne eines löchrigen Bandoneons rollten über die Straße und rannen müde in den Kanal, verloren wie ihr Spieler, vergeblich wie die Liebe, die sie besangen. Über der Stadt lag schwer der Hauch einer dunklen traurigen Wolke.

Alicia war allein. Mitten in der kleinen Gasse ging sie einem unbekannten Ziel entgegen, aus dem Dunkel der Vergangenheit in die Finsternis der Zukunft. Sie wusste nicht, wie sie hierher gekommen war, wo sie war, wohin sie wollte.

Nur das Gefühl einer drohenden Begegnung nagte leise in ihrem Geist. Die Absätze der Schuhe klapperten melodisch auf dem Pflaster, hallten von den schrägen Mauern der Häuser wider, grüßten sie spöttisch als einzige Begleiter. Vor ihr lag ein schwarzes Loch – eine Pfütze? ein Kanal? der Buckel eines monströsen Wesens aus der Tiefe? Vorsichtig ging sie um den Fleck herum. Als sie genau auf seiner Höhe war, quoll etwas Heißes, Stickiges auf sie zu. Ein Wüstenwind brandete hoch und versengte ihre Seele. Sie wusste, die Hitze kam nicht von außen. Und sie wusste, etwas Schreckliches würde geschehen. Dann hörte sie die Schritte.

Die Schritte waren weich und katzenhaft verhalten. Jemand schlich hinter ihr her, zielbewusst und entschlossen wie ein Raubtier, das seine Beute erspäht hat und weiß, dass sie ihr nicht entkommt. In der Ferne ratterte ein Zug Über müde Geleise, in einem Haus vor ihr lachte jemand gequält.

Alicia ging gleichmäßig festen Schrittes weiter, aber sie musste sich ständig zusammenreißen. Nicht laufen, flüsterte sie, nicht umdrehen, stehen bleiben. Weiter, immer weiter in die Schwärze der Nacht, die mit jedem Schritt dunkler und dichter wurde, sie aufsog und lähmte.Und dann war die Gasse zu Ende. Ein Eisentor,  girlandengeschmückt  und   efeuüber-
wuchert, starrte sie spöttisch an. Hinter dem Tor war eine Wand. Hätte sie das Tor öffnen können, es hätte ihr nichts genützt. Der Weg war zu Ende. Sie drehte sich langsam um und lehnte sich ans Tor, dessen kühle Eisenstäbe wie sanfte Finger in ihre Haut griffen. Eine Gestalt, dunkler als der Nachthimmel glitt langsam auf sie zu. Plötzlich brach Mondlicht durch die Wolken. Ein Silberstrahl übergoss das Wesen vor ihr, hob es düster heraus aus der Schwärze der Nacht.

Vor ihr stand ein Mann in dunklem Anzug, den Hut tief in die Stirn gezogen, das Kinn eingeklappt und die Hände in den Taschen des Jacketts vergraben. Die Augen waren unter der Hutkrempe kaum zu sehen. Ihr Blick schnitt tief in die Erinnerung. Da war etwas …

Der Mann stand erstarrt wie eine Katze im Lichtkegel eines Autos, sprungbereit, doch in der Zeit verharrend. Der Augenblick gefror zur Ewigkeit, Zögern hüllte dumpf die Szene ein. Ein Dröhnen tönte kurz aus der Ferne, wie ein liebeshungriges Nebelhorn, und langsam erwachte die Gestalt vor ihr. Der Mann nahm die eine Hand aus seiner Tasche, sie war zur Faust geballt. Zögernd, als hätte er selber Angst bekommen, streckte er sie ihr entgegen. Mit zwei Fingern ergriff er ihre Hand, die schlaff nach unten hing, und drückte etwas hinein. Dann drehte er sich schnell um und ging davon.

In diesem Augenblick erwachte Alicia aus der Erstarrung. Plötzlich hatte sie das Gefühl, die Gestalt zu kennen. Sie stürzte ihr nach. Das Silberlicht des Mondes verschwand und –

Der Mann nahm die eine Hand aus seiner Tasche, sie war zur Faust geballt. Zögernd, als hätte er selber Angst bekommen, streckte er sie ihr entgegen. Mit zwei Fingern ergriff er ihre Hand, die schlaff nach unten hing, und drückte etwas hinein.

Dämmerung

Der Tag dämmerte vorsichtig heran. Ein paar zögernde Lichtstrahlen schlängelten sich durchs Zimmer, klammerten sich an die Fransen der Bettdecke und versuchten, die Schläferin zu wecken. Langsam fand die Gestalt im Bett zurück in die Wirklichkeit, kroch heraus aus dem Reich der Träume und der seltsamen Zusammenhänge, öffnete zuletzt ihre Augen und schüttelte den Kopf. Eigenartige Erinnerungen zerrten von innen an den Augen, dunkle Bilder, die sich auflösten und keine feste Form erhielten.

Da war doch etwas gewesen? Ein Alptraum in schwarz, mit roten und weißen Splittern? Alicia richtete sich auf und warf energisch die Decke zurück. Etwas fiel mit leisem Klick zu Boden und rollte unters Bett. Sie bückte sich und holte einen kleinen schwarzen Gegenstand hervor. Mit einem Mal waren die Bilder der Nacht wieder da. Wie in einem Blitzlicht sah sie die Szene in der dunklen Gasse, sich selbst vor der Mauer, den Mann im Mondschein. Und zuletzt hatte er ihr etwas in die Hand gedrückt …

Mit einer Mischung aus alptraumhafter Angst und nüchterner Neugier sah sie sich das Ding in ihrer Hand an. Es war anscheinend eine Schachfigur, ein schwarzer König, wenn man es genau nahm. Aber er war seltsam verkrümmt. Statt dass er aufrecht stand, lag er auf dem Rücken. Die Augen hatte er geschlossen, die Hände auf dem Bauch gefaltet und auf dem Kopf war die Andeutung einer Zipfelmütze zu sehen. Bedrohlich sah er bestimmt nicht aus, eher grotesk. Man konnte den Eindruck gewinnen, der Schwarze König läge da und träume.

„Was er wohl träumt?“ dachte Alicia, und musste im nächsten Moment lachen. Denn diese Frage war doch ziemlich unwichtig. Viel wichtiger war: Woher kam die Figur? Und was sollte sie bedeuten? Vermutlich hatte sie einer ihrer Mitbewohner mitgebracht. Doch das stellte sich bald als Irrtum heraus. Denn beim Frühstück lehnte jeder die Verantwortung für die kleine Figur ab, So etwas hätte auch noch niemand gesehen, und vielleicht handle es sich gar um eine Art Wuduzauber, um ein böses Omen, um eine obskure Warnung oder um einen magischen Talisman.

Einen Augenblick war Alicia beunruhigt. Der Traum, das wusste sie, hatte mit dieser Figur zu tun. Und als realistische Person sah sie das Hauptproblem in der Frage, wie die Figur zu ihr gekommen war. Denn aus der Traumwelt konnte sie sich wohl kaum materialisiert haben. Oder gab es so etwas? Alicia beschloss, die Figur loszuwerden. Aber nicht einfach so, durch Wegwerfen. Das wäre zu billig. Nein, irgendein Geheimnis lag in dem kleinen schwarzen Ding, und so sollte es auch auf geheimnisvolle Weise wieder verschwinden. Zum Beispiel in einer Schaufensterpuppe.

Es war ein schwarzer König, seltsam verkrümmt. Statt dass er aufrecht stand, lag er auf dem Rücken. Die Augen hatte er geschlossen, die Hände auf dem Bauch gefaltet und auf dem Kopf war die Andeutung einer Zipfelmütze zu sehen. Bedrohlich sah er bestimmt nicht aus, eher grotesk. Man konnte den Eindruck gewinnen, der Schwarze König läge da und träume.

Morgen

Schaufensterpuppen zusammenzustellen, zu bemalen und zu dekorieren ist zwar nicht die Traumbeschäftigung für eine leidenschaftliche Tango-Tänzerin, doch konnte man auch dieser Tätigkeit gewisse ästhetische Reize abgewinnen. Und mit heimlicher Schadenfreude legte sie einer dieser Puppen den schwarzen König in den Mund. Niemand käme auf die Idee, einer Schaufensterpuppe in den Mund zu schauen. Unter den Rock vielleicht, wegen der Strümpfe. Aber wer sollte schon ihre Zähne inspizieren?

Doch wem das Schicksal etwas mitteilen will, der kann sich dem nicht entziehen. Das musste schon Polykrates erfahren, der seinen Ring auch nicht loswurde, selbst als er ihn ins Meer warf. Ein Fisch verschluckte ihn, und der gute König hätte sich beinahe an dem Ring verschluckt, der im Magen des Fisches lag, welcher (der Fisch, samt Magen) dem König zum Mahle vorgesetzt wurde.

So ähnlich ging es Alicia. Als sie nach einer halben Stunde den Schwarzen König, friedlich schlummernd, in der Hand eines losen Puppenarmes fand, war sie echt schockiert. Das konnte nicht sein! Der König war doch im Mund der Puppe, die jetzt – moment – ja, dort links oben lag. Oder doch nicht? Aber sie hatte doch – Verwirrt nahm sie das Ding und legte es einer anderen Puppe mit Klappfenster in den Bauch. Nach zehn Minuten war die Figur wieder da, diesmal in einer Perücke. Als sie ihn in einem Fuß versteckte, stieß sie kurze Zeit später mit den eigenen Zehen gegen ihn. Zuletzt warf sie ihn in die Abfalltonne und fand ihn anschließend in ihrer Handtasche. Da gab sie es auf.

Und es dämmerte ihr: Da war Magie im Spiel. Jemand hatte die schwarze Figur verhext … und wollte wahrscheinlich auch sie verhexen … Und sie musste etwas dagegen tun. Bloß: Was sollte diese Figur nur bedeuten? Und wer wollte sie verhexen? Und warum?

Nun, Leute, die etwas gegen sie hatten, gab es genug. Aber keiner von denen verstand sich auf Magie. Außer, es war jemand aus ihrer Heimat, der sie aufgespart hatte oder auf diese Weise aufsparen wollte. Und sie musste etwas dagegen tun. Aber was?

Sie überlegte. Einen schwarzen König gab es im Schachspiel. Also sollte sie jemanden fragen, der etwas von Schach verstand. Andrerseits hatte er auch mit Magie zu tun. Also müsste sie jemand fragen, der etwas von Magie verstand. Und von Schachspielen. Und von Träumen. Ein bisschen viel verlangt. Aber sie kannte eine Menge Leute. Da musste doch jemand dabeisein …

Mittag

Alfonso war Angestellter bei einer Behörde, aber privat beschäftigte er sich mit Astrologie und Magie, machte Experimente mit Tischerücken und beschwor angeblich Geister. Und das am liebsten in alten Schlössern, die er in letzter Zeit leider meiden musste, weil sich sein Rheuma immer stärker bemerkbar machte. Schlösser sind meistens schlecht geheizt.

Alfonso empfing Alicia in seinem magischen Zimmer, gekleidet in einen schwarzen Umhang, unrasiert, mit gesenktem Kopf wie der eines Stieres kurz vor dem Angriff. Ein paar Kerzen brannten, die schwarzen Vorhänge waren zugezogen, und es roch süßlich-betäubend nach irgendwelchem Räucherwerk.

Sie setzte sich brav in einen Stuhl und überreichte ihrem Gegenüber den Stein des Anstoßes, die kleine Figur. Der Magier hielt sie an die Augen (aber bei dem schwachen Licht konnte er kaum etwas sehen) und betrachtete sie eingehend von allen Seiten. Nach einer kleinen Ewigkeit stellte er die Figur auf eine Glasscheibe. Dann holte er ein Pendel und ließ es über der Figur seltsame Schwingungen ausfahren. Er rieb sich sein stoppelbärtiges Kinn, murmelte „hm, hm“ und nahm einen Stab, der in einem Fuß steckte. Der Stab fing an zu vibrieren, als er in die Nähe des Schwarzen Königs kam. Alfonso rieb sich sein Kinn, murmelte „hm, hm“ und holte aus seinem Schrank ein Konglomerat aus blitzenden Drähten und farbigen Lichtern. Er legte die geheimnisvolle Figur auf eine Glaskugel am oberen Ende des Geräts. Die Lichter begannen zu blinken, erstrahlten in seltsamer Farbenpracht, bis der kleine König abrutschte und ins Innere des Gerätes fiel. Daraufhin gab es einen leichten Knall und die Lichter erloschen.

Alfonso fluchte und Alicia dachte, ‚Das fängt ja gut an‘. Aber sie unterdrückte ihre Ungeduld. Das war sicher ein schwieriger Fall. Schließlich findet man nicht jeden Tag schlafende schwarze Könige mit Zipfelmütze, und das auf geheimnisvolle Weise. Doch als der Magier begann, sein Gerät auseinander zu nehmen und zu reparieren, wagte sie doch eine Bemerkung. „Können Sie schon etwas sagen?“ fragte sie und lächelte unschuldig. Alfonso beachtete sie erst nicht, rieb sich dann das Kinn und murmelte „hm, hm“. „Ist das alles ?“ fragte Alicia und unterdrückte ihren Ärger. „Definitives“ meinte der Magier, „ist den bisherigen Ergebnissen nicht zu entnehmen. Ich kann nur Vermutungen anstellen, die jedoch – “ „Bitte vermuten Sie“ unterbrach ihn Alicia, denn sie hatte Angst, er würde nie zur Sache kommen.

„Ja“ meinte Alfonso, „offensichtlich liegt hier ein hochenergetisch geladenes Artefakt aus viktorianischen Zeiten vor, das zu artifiziellen pädagogischen Zwecken eingesetzt wurde, mit dem Ziel, die Realitätsfindung bei hyperaktiven Kindern – „

„Wie bitte?“ unterbrach ihn Alicia fassungslos. Der Magier sah sie irritiert an. „Ich meine“ sagte er und bemühte sich sichtlich um Verständlichkeit, „das Zeug hier ist ein Kinderspiel aus dem vorigen Jahrhundert.“ Alicia stand empört auf. „So ein Quatsch!“ rief sie, entriss dem bleich gewordenen Alfonso den Schwarzen König und verließ wutschnaubend sein luftloses Domizil.

Nachmittag

Bertrand war das, was man einen „Weisen“ nennt. Er hatte die Jahre des Kampfes, der Auseinandersetzung, des Ehrgeizes und der menschlichen Begierden hinter sich. Als mäßig erfolgreicher Künstler konnte er sich zur Ruhe setzen und sich ungestört seinen philosophischen Studien widmen. Man sagte von ihm, er sei ein Kenner indischer, chinesischer, japanischer und schamanistischer Denksysteme. Ob er auch die Menschen kannte, das wusste man leider nicht.

Als Alicia seine vollgestopfte Wohnung betrat, eilte er sogleich auf sie zu, nahm sie heftig, pardon: herzlich in die Arme, ließ sie dann aber nach einiger Zeit doch wieder los. Er bot ihr ein Kissen am Boden an, setzte sich ihr gegenüber, ebenfalls auf ein Kissen, und schenkte ihr Tee ein. „Frisch zubereitet“ sagte er mit unterdrücktem Stolz, „nach der  KaiNu – Zere-
monie. Sie stammt aus der Tschang-Tschung-Dynastie, 8. Jahrhundert v. Chr., als die großen Stilelemente der nach-taoistischen Vasenmalerei gerade begannen … “ Und so ging das etwa zehn Minuten, während Alicia ungeduldig auf dem Kissen hin- und herrutschte und sich am Tee die Zunge verbrühte.

Endlich war die Lektion zu Ende. Alicia überreichte ihm die ominöse Figur und wollte ihm die mysteriöse Herkunft erzählen, doch Bertrand umschloss den schwarzen König mit seiner Hand, gebot ihr (das ist wohl der richtige Ausdruck) Schweigen, schloss die Augen, hob das Gesicht zum Himmel und nahm einen verzückten Ausdruck an. So vergingen wieder mindestens zehn wertvolle Minuten, während Alicia vor Ungeduld beinahe platzte.

Schließlich senkte Bertrand seinen Kopf, öffnete die Augen und begann in feierlichem Ton zu erzählen. „Es war einmal ein chinesischer Weiser“ fing er an, während es Alicia kalt über den Rücken lief, „der hieß Tschuang-Tse. Überall war er bekannt ob seiner wundervollen Gedichte, seiner köstlichen Kalligraphien, seiner erhabenen Gedanken.“

„Bitte“ flüsterte Alicia, „geht’s nicht etwas kürzer?“ Doch der Weise, der von einem Weisen erzählte, hörte sie nicht. „Eines Tages“ fuhr er salbungsvoll fort, „träumte Tschuang-Tse einen wunderschönen Traum. Er wandelte durch eine blumenüberkränzte Frühlingswiese, wo die Vöglein zwitscherten und die Schmetterlinge schwirrten.

Und als er so über das feuchte Gras schritt, da war ihm, als verwandle er sich selbst in einen Schmetterling, der anmutig über die Blumen tänzelte.“

„Tschuang-Tse erwachte“ fuhr Bertrand fort, „und fragte sich dann: Bin ich nun Tschuang-Tse, der träumte, ein Schmetterling gewesen zu sein, oder bin ich ein Schmetterling, der träumte, Tschuang-Tse gewesen zu sein?“

‚Alberne Frage‘, dachte Alicia, aber irgendwie war sie doch interessiert. Denn es ging um einen Traum … und darum, wer wer ist. Die einfache Erzählung hatte etwas in ihr angerührt. Ob sie das Geheimnis des Schwarzen Königs klären konnte? Sie hatte ja noch einen Besuch auf ihrem Programm.

Bertrand saß wieder verzückt da und starrte ins Leere. Alicia nahm ihm vorsichtig das schwarze Kleinod aus der Hand und machte sich geräuschlos aus dem Staub. Soll er doch weiter meditieren, dachte sie, bis er sich in einen Schmetterling verwandelt. Oder in eine große grüne Raupe.

Tschuang-Tse erwachte und fragte sich dann: Bin ich nun Tschuang-Tse, der träumte, ein Schmetterling gewesen zu sein, oder bin ich ein Schmetterling, der träumte, Tschuang-Tse gewesen zu sein?

Abend

Con-Con war auch bekannt als „Mister C“. Seinen wahren Namen verschwieg er schamhaft; vermutlich hieß er Franz Meier und schämte sich deswegen. Jedenfalls war er Computerfachmann, und als Alicia sein Zimmer betrat, spuckte der Drucker gerade mit kreissägeartigen Geräuschen einen Haufen Papier aus. Con-Con saß vor seinem Bildschirm und hörte sie nicht. Weder ihr „Guten Tag“ noch ihr „Hallo, Con-Con“ rissen ihn aus seiner Welt. Erst als sie ihre Hand auf seine Schulter legte, bemerkte er ihre Anwesenheit. Allerdings hielt er sie für eine Fliege und schlug auf ihre Finger. Doch als er den Irrtum bemerkte, sagte er nur „Ach du!“

Alicia hatte das dumpfe Gefühl, dass auch dieses Gespräch höchst unerfreulich verlaufen würde. Was kannte sie doch für Leute! Ein Magier, dessen Geräte kaputtgingen, ein Weiser, der von träumenden Schmetterlingen erzählte, ein Computerfachmann, der sie für eine Fliege hielt und anscheinend auch so behandelte.

„Soll ich dir mein neues Programm zeigen?“ fragte ConCon mit glitzernden Augen, die ebenso rechteckig waren wie der Bildschirm, in den er den ganzen Tag starrte. „Bitte nicht!“ rief Alicia, nahm sich dann aber doch zusammen. „Ich habe ein Problem“ sagte sie. „Ich habe von einem schwarzen König geträumt, und der -„

„Nein“ unterbrach sie Con-Con und starrte sie an. „Er hat dich geträumt!“ ‚Jetzt fängt der auch damit an‘, dachte Alicia. Sind denn alle verrückt geworden? Oder war sie verrückt? „Meine liebe Alice“ fuhr Con-Con fort, doch seine Besucherin unterbrach ihn sofort. „Ich heiße Alicia“ sagte sie leicht eingeschnappt.“ „Na, wer weiß“ seufzte Con-Con und fuhr dann fort.

„Wir Computer-Leute sind nicht sonderlich gebildet. Wir lesen nur Computer-Handbücher und ab und zu einen Science-Fiction-Roman. Aber einen Lieblingsautor haben wir alle. Er heißt Lewis Carroll, war Mathematiker im viktorianischen England und ist durch seine Bücher über die kleine Alice im Wunderland und hinter den Spiegeln berühmt geworden.“

„Und was hat das mit mir zu tun?“

„In dem Buch über Alicens Abenteuer hinter den Spiegeln kommt eine Szene vor, die uns Computer-Leute immer wieder fasziniert. Alice sieht einen schwarzen König unter einem Baum sitzen, offenbar schlafend. Ihre beiden Begleiter Zwiedeldumm und Zwiedeldei sagen ihr, sie solle ganz leise sein, denn sie alle sind nur Teil seines Traums. Und wenn er erwacht, verschwindet die ganze Welt.“

„Aber was hat das mit mir zu tun?“ fragte Alicia. „Ich bin kein kleines Mädchen. Und außerdem: Wer war der Mann? Und wie bin ich zu dem Dingsda gekommen?“ „Kennst du den Mann im Traum?“ „Irgendwie war er mir bekannt.“ „Na also“, sagte Con-Con und starrte wieder in seinen Bildschirm, „vielleicht wirst du auch einmal eine Königin wie die kleine Alice.“ „Ich bin schon eine Königin!“ rief Alicia wütend, drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer. Hinter ihr glaubte sie noch zu hören, wie Con-Con sagte: Mein Computer träumt mich! Aber sie konnte sich auch täuschen. Und außerdem war es ihr egal. Sollte er doch sich selbst träumen. Sollten doch alle Menschen träumen. Dann hätte sie wenigstens Ruhe vor ihnen.

Nacht

Der Tag war lang gewesen, sehr lang. Es war nach Mitternacht. Sie hatte sich wieder mal viel zu viel vorgenommen. Der nächtliche Alptraum, so weit lag er zurück. Die kleine schwarze Figur, die jetzt gar nicht mehr bedrohlich wirkte, eher verspielt. Die kuriosen Abenteuer in der Fabrik. Die Gespräche mit den drei so unterschiedlichen Leuten. Der Kurs am Abend, anstrengend wie immer. Die netten Plaudereien anschließend im Lokal, sehr schön, aber doch beinahe zuviel. Auch wenn ihre Schüler sie noch in rührender Fürsorge nach Hause brachten.

Sie öffnete die Haustür und ging langsam die dunkle enge Wendeltreppe hinauf. Etwas zog und zerrte an ihren Füßen, hing bleiern an ihren Zehen, fesselte die Hacken ihrer Schuhe an die Stufen der Treppe. Ein wirbelnder Sog schwarzer Müdigkeit stieg von unten hinauf, füllte die Adern ihrer Seele, durchschwemmte die Kanäle ihres Hirns. Sie hielt sich am Geländer fest, schleppte sich Schritt für Schritt nach oben.

Und sie wusste: Es war nicht nur eine körperliche Müdigkeit. Sie fühlte sich ausgelaugt, innerlich schwach, müde und verlassen. Trotz der vielen netten Freunde, trotz ihrer Bekanntschaften und Beziehungen spürte sie etwas Leeres in sich. War das Leben nur ein Traum oder träumte jemand anderer ihr Leben? Und warum mussten es immer Alpträume sein?
Alicia hatte beinahe ihre Wohnungstür erreicht. Einen Moment blieb sie stehen und sah zur offenen Dachboden-Klapptür hinauf. Zartes Licht floss durch das Dachbodenfenster. Der Mond war aufgegangen und schmolz langsam durch die Dachluke herab. Aus dem Rinnsal wurde ein Bach, schwoll an zu einem Strom, wandelte sich zum Meer. Lichtfluten hoben sie auf, trugen sie fort, schwemmten sie hinweg aus der Welt der Wirklichkeit – oder war es die Welt der Träume? – trieben sie in das Reich des unendlichen Frühlings.

Der Tag war warm und sonnenüberflutet. Ein ständiges Schwirren wie von tausend emsigen Flügeln lag in der Luft. Bunte Farben verwirrten das Auge, ertränkten es in einer Flut warmer Schauer. Blumen und Grashalme wogten im Frühlingswind, kleine Tiere hüpften, krochen, saßen oder lagen paradiesisch verstreut in der Landschaft. Die Luft war voller Libellen, Käfer, Mücken und Schmetterlinge. Die milde Brise klang summend in den Ohren, als Äolsharfe einer versunkenen Welt.

Alicia schritt barfuss durch die taunasse Wiese. So leicht und lebendig war sie, dass sie mehr schwebte als ging. Die Schwerkraft schien aufgehoben, die Zeit gebannt, der Tag unendlich. Nichts konnte sich ändern. Frühling herrschte hier für alle Zeit, Heiterkeit und Fülle durchwebte die Lebewesen dieser Welt.

Sie wusste nicht, woher sie kam, wohin sie ging, was sie hier wollte. Sie wusste nur: Hier würde sie jenem Wesen begegnen, das ihr alles erklären und alle Fragen beantworten konnte. Was erklären? Welche Fragen beantworten? Es gab nichts, was sie wissen wollte. Die Welt war in Ordnung, so wie sie war.

Eine kühle Brise unterbrach den lauen Strom des Frühlingswindes. Jemand ging hinter ihr her, leichtfüßig, tänzelnd und kokett. Alicia drehte sich nicht um. Es machte ihr Spaß,‘ auf diese Art verfolgt zu werden. Wenn sie eine andere Gangart einlegte, machte ihr Hintermann das gleiche. Blieb sie stehen, war auch hinter ihr Stille. Warf sie sich ins Gras, tat die unsichtbare Gestalt das gleiche. Immer wurde sie nachgeahmt, und es machte ihr ebensoviel Spaß wie dem Wesen hinter ihr.

Zartes Licht floss durch das Dachbodenfenster. Der Mond war aufgegangen und schmolz langsam durch die Dachluke herab.

Irgendwann – es gab hier keine Zeit – drehte sie sich um. Vor ihr stand ein kleines Mädchen, schmuddelig, barfüßig, mit zerfleckten Kleidern. Die Füße waren schlammverkrustet, und auch das Gesicht hätte ein wenig Wasser vertragen. Ernst sah sie die kleine Gestalt an, doch die dunklen Augen glitzerten voll Fröhlichkeit und unterdrücktem Lachen.

Das kleine Mädchen hatte die Fäuste geballt. Langsam streckte es die eine Hand Alicia entgegen. Offenbar war da etwas versteckt, Vorsichtig, beinahe verstohlen drückte es ihr etwas in die Hand, drehte sich dann um und rannte davon. Alicia wollte ihr nachlaufen,
doch –

Alicia lehnte gegen die Tür. Im Zimmer war es dunkel. Sie brauchte eine Weile, sich zurechtzufinden. Wie war sie hereingekommen? Durch die Tür natürlich. Und was war vorher gewesen? Die Wendeltreppe, die Müdigkeit, der Traum vom Frühling, ein kleines Mädchen, das etwas in der Hand hielt … die Hand! Plötzlich spürte sie, wie ihre Hand etwas umschloss, etwas Kleines, Lebendiges. Sie hielt sie an ihre Augen und öffnete sie langsam.

Ein Schmetterling saß da, bunt und strahlend, als ob er sein eigenes Licht mitgebracht hätte, denn im Zimmer war es viel zu finster für ein so farbiges Tag-Wesen. Lange sah Alicia das kleine Lebewesen an, dann öffnete sie das Fenster, um es in die Freiheit zu entlassen.

Doch der Schmetterling war ein besonderer Schmetterling. Er stammte nicht aus dieser Welt, er war nur ein Bote aus der Welt der Träume. Also blieb er in ihrem Zimmer und flatterte eine Weile suchend umher. Zuletzt ließ er sich auf einem ihrer Bilder nieder, dort, wo eine magere Frau traurig in die Welt blickte. Er saß genau auf ihren Augen, so dass die Frau, hätte sie wirklich gesehen (aber was heißt schon ‚wirklich‘?), nun entweder blind geworden wäre oder die Welt nur noch durch das bunte Licht der Schmetterlingsflügel wahrgenommen hätte.

Und plötzlich wusste Alicia. Sie konnte nicht sagen, was sie wusste, aber das Wissen erfüllte sie mit Ruhe und Zuversicht. Der Tag war zu Ende, die Zeit der Träume dämmerte heran. Und diesmal würden es keine Alpträume sein.

ENDE