Die Irrfahrten der Hara Z.

Wohl dem, dessen Träume wahr werden – meinen wir. Wehe dem, wem die Götter dies gewähren. Denn das Paradies des Träumers ist die Hölle all derer, die nicht träumen.

Abschied

Die Zeit des Abschieds war gekommen. Mehr als ein Jahrzehnt hatte Hara bei der Hohepriesterin gedient und gelernt, war eingeweiht worden in die Mysterien der Isis, in das uralte Wissen, das nur Frauen weitergeben durften, das zur Erhaltung der Erde, der Natur, der Tiere, Pflanzen, Mineralien und auch der Menschen diente.

Sie war eine gute Schülerin gewesen, lerneifrig, aufgeschlossen, gehorsam. Sie hatte die Strenge und Distanziertheit der Hohepriesterin immer geachtet. Doch obwohl sich ihre Initiierung in den  formalen  Bahnen  eines Lehrer – Schüler-
Verhältnisses abspielte, hatte sie sich dennoch nie ausgeschlossen gefühlt. Der Tempel mit seinen   türkisfarbenen   Vorhängen,  den  Jade-
Statuen, den Kupfergefäßen und den Bildern aus Lehm und roter Erde – er war ihr zur Heimat geworden. Zu einem vertrauten und sicheren Refugium.

Hara hatte alle Prüfungen bestanden, hatte all das Wissen, das ihr zustand, richtig aufgefasst, verarbeitet und in sich gespeichert. Jetzt, zum Abschied, lud die Hohepriesterin sie zu einer Abschiedszeremonie ein. (Alles im Tempel verlief zeremoniell. Es gab nichts Spontanes, fast möchte man sagen: Nichts Menschliches. Alles war streng vorgeschrieben. Doch gerade diese Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit verlieh dem Wissen Struktur, dem Leben Gehalt, der Umgebung Sicherheit.)

Zum ersten Mal durfte Hara der Hohepriesterin gegenübersitzen. Zwischen ihnen stand eine dampfende Schale. Die Hohepriesterin schenkte jedem von ihnen einen Becher voll ein.

„Was ist das?“ wagte Hara zu fragen.

„Tee“ sagte die Frau mit dem zeitlosen Gesicht, den streng zurückgebundenen Haaren und dem langen Gewand. Es klang sehr trocken, und Hara hatte beinahe das Gefühl, als ob sich ein verborgenes Lächeln zwischen die Mundwinkel verirrte. „Das heilige Getränk einer anderen Gottheit.“ fügte sie hinzu, und in ihrer Stimme schwang untergründiger Humor.

„Du warst eine gute und gehorsame Schülerin“ begann die Frau mit dem undurchdringlichen Antlitz, und der stille Raum war erfüllt von der Feierlichkeit der Göttin. „Du wirst jetzt in die Welt hinausgehen und Dein Wissen anwenden und, soweit es nötig und erlaubt ist, unter die Menschen bringen.

Da draußen in der Welt voll Krieg und Hass, voll Gewalt und Niedertracht, sollst Du eine Perle der Liebe sein. Du sollst das Licht weitergeben, das hier in deinem Herzen entzündet wurde. Es wird dir manchmal schwer fallen. Du wirst vielen Menschen begegnen. Manche werden an dir schuldig werden, an manchen wirst du Schuld abladen. Das ist nicht so schlimm. Wir alle sind unvollkommen. Doch denke daran, dies ist nicht unser erstes Leben, und es wird nicht unser letztes sein. Was du hier begonnen hast, kannst du im nächsten Leben vollenden. Was du hier den Menschen Schlimmes angetan hast, kannst du im nächsten Leben gutmachen. Karma ist nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung, sondern das Gesetz des Ausgleichs. Und es unterliegt deinem freien Willen, dieses Gesetz zu erkennen, anzuwenden und zu erfüllen.“

„Ich habe hier“ fuhr die Hohepriesterin fort, während sie aufstand und eine Schatulle aus schwarzem Holz holte, „ein Geschenk für dich.“ Sie packte einen Spiegel aus, der aus schwarzem Glas bestand. „Was siehst du?“ fragte sie Hara, während diese intensiv auf den Spiegel starrte.

Doch Hara sah nur eine glatte, schwarze Fläche. Vorsichtig hob sie den Spiegel auf und drehte ihn um. Auf der Rückseite saß ein lächelnder BuDha und sah sie fröhlich an.

„Dieser Spiegel zeigt dir das wahre Gesicht der Menschen und der Dinge. Allerdings nur dann, wenn du dies auch sehen willst. Denn er reflektiert auch deine Vorurteile und Vorstellungen. Mache dich innerlich leer, schiebe deinen Geist beiseite, dann wird dir der Spiegel die Wahrheit zeigen.“

„Und jetzt geh!“ sagte die Hohepriesterin. „Draußen herrscht Krieg, Hunger und Verzweiflung. Die Menschen brauchen dich.“

Hara stand auf, und wie selbstverständlich umarmten sich die beiden Frauen, die eine, die schon alles wusste, die andere, die alles zu wissen glaubte. Wenn jemand einem anderen zuhört und ihn versteht, dann schwingen die Geister im Einklang. Wenn dies über Jahre geschieht, dann nur deshalb, weil auch die Herzen im Einklang stehen. So fühlte sich Hara jetzt. Sie spürte Dankbarkeit für diese schöne Zeit, und gleichzeitig kroch aus den dunklen Tiefen des Herzens die Ahnung kommender Schrecken.

So ging sie hinaus aus der weihevollen Stille des Tempels in die verwüstete Welt der Menschen. Und dort begegnete sie dem Soldaten. Bei ihm erfuhr sie Hass und Liebe, Zärtlichkeit und Gewalt, Begegnung und Abschied.

Zum ersten Mal durfte Hara der Hohepriesterin gegenübersitzen. Zwischen ihnen stand eine dampfende Schale. Die Hohepriesterin schenkte jedem von ihnen einen Becher voll ein.

Der Soldat

Die Hütte war klein, löchrig und strohbedeckt. Zahlreiche Flüchtlinge kauerten auf dem Lehmboden, Frauen mit Kindern, alte Männer, fahnenflüchtige Soldaten. Der Krieg war überall. Die Menschen flohen, aber nirgends gab es Zuflucht. Niemand entging ihnen, man wusste nicht einmal, wer „sie“ waren. Vielleicht waren es die eigenen Leute. Der Krieg war so sinnlos wie jeder Krieg.

Hara tat, was sie konnte. Sie versorgte die Menschen mit Nahrung und mit Liebe. Sie war geachtet, wie eine Priesterin, wie ein Licht inmitten der Finsternis. So fühlte sie sich auch.
Alles um Hara war rot. Das Blut der Verwundeten färbte den Boden. Die Feuer des Krieges leuchteten in der Ferne, erhellten auch die Nacht mit ihrem fahlen Schein, mit ihrem Flackern und ihrem unheilvollen Versprechen. Und eines Tages war es dann so weit: Der Krieg hatte auch diese Hütte erreicht. Die Soldaten waren gekommen.

Wie tief können Menschen sinken? Und was kann ein Hochstehender, ein Eingeweihter, ein Wissender, dagegen tun? Kann er diese Menschen aufhalten? Sie umstimmen? Ihnen Liebe geben und damit in ihren rohen Herzen ein Licht des Erbarmens entfachen? Hara versuchte alles, aber es waren keine Menschen, die da kamen. Es waren Maschinen, Roboter, programmierte Wesen, die ihre Seele – oder was immer davon übriggeblieben war – dem Teufel verkauften. Dem Teufel in ihrem eigenen Inneren, denn es gibt nur diesen einen.

Sie erschlugen die Männer und Kinder, sie nahmen sich wahllos die Frauen und machten sich nicht einmal die Mühe, sie irgendwohin zu schleifen. Mitten unter all dem Gräuel schändeten sie ihre Opfer, um ihnen dann die Kehle durchzuschneiden und die Hütte anzuzünden. Und sie lachten – wenn man das als Lachen bezeichnen kann. Es war ein Grölen, und manchmal klang es wie ein Bellen – oder wie ein Schluchzen.

War das das Ende? Hara fühlte nichts und dachte nichts. Sie tat nichts und sie betete nicht.

Sie war tot. Nur ganz tief drinnen flackerte noch ein Licht, ein Hauch Menschlichkeit, den selbst die Gräuel des Krieges nicht zum Verlöschen gebracht hatten.

Sie stand in der Ecke der Hütte, dort, wo sie am dunkelsten war, und wartete. Es gab sonst nichts zu tun. Und dann kam einer von ihnen auf sie zu, allein. Wie durch einen Schleier hörte sie seine Schritte, sein Keuchen, das Klirren des Säbels. Ein dunkelrotes Tuch lag über ihren Augen; so sah sie seine Gestalt, sein Gesicht. Dann sah er sie. Die beiden sahen sich an, und die Zeit gefror. War es ein Erwachen? Oder erstarrte die Welt in einem Traum, einem Alpdruck, einem unendlichen Rad? Oder – was verband die beiden Menschen, die reine Anbeterin der Göttin der Liebe, und den rohen Verwirklicher der Taten des Kriegsgottes?

Im Hintergrund loderten Flammen. Sie zeichneten das Gesicht des Soldaten, schufen eine brennende Unruhe trotz der Starre und des gefrorenen Augenblicks. Sein Gesicht war ganz anders als die Visagen der anderen. Es war jung, sehr jung, von der Rohheit des Kriegs gezeichnet und dennoch fein und sensibel. Er hatte dunkle Haare, die ihm bis über die Schultern fielen. Sein Gesicht war bleich, mit Punkten um Augen und Nase. Es konnte sich um Sommersprossen handeln, oder um Schlammspritzer – oder um Blut. Um seine Schultern hing eine Decke. Sie war rot, mit schwarzen Einsprengseln. Seine Augen flackerten im Schein der Flammen. Alles war rot und schwarz – Hass und Tod, Gewalt und Vergehen.

Langsam ging er auf sie zu. In ihrem Inneren war keine Furcht mehr, kein Hass – nur ein seltsames Gefühl der Vertrautheit, beinahe des Wiedererkennens. Der letzte Schein des Lichts der Liebe in ihrem Inneren bekam von irgendwoher Nahrung. Das Licht begann zu leuchten, strömte von ihr weg, umhüllte den Jungen mit der zerrissenen Decke. Ganz nahe bei ihr blieb der junge Mann stehen. Wie in Trance begann er zu reden,

„Sie haben mich mitgenommen. Sie haben meinen Vater über dem Feuer in der Stube aufgehängt und dort gelassen, bis er verkohlt war. Seine Schreie – sie haben meine Mutter gepackt und – dann haben sie alles verbrannt und mich mitgenommen. Ich bin Soldat. Ich tue das gleiche wie sie. Nur dadurch kann ich gutmachen – nur dadurch bekomme ich – Erlösung – „

Er brach vor ihr zusammen und krümmte sich in lautlosem Weinen. Hara beugte sich zu ihm, nahm ihn vorsichtig in ihre Arme und drückte seinen Kopf an ihre Brust. Mit einem Mal war sie seine Mutter, die nicht mehr lebte, seine Beschützerin, seine Mitleidende. Sie spürte die Schrecken, die auf seiner Seele lasteten, Schrecken, die er selbst mit verursacht hatte, und sie erinnerte sich der Mittel und Wege, die sie gelernt hatte. So ging sie behutsam in sein Inneres und nahm ihm die Qualen seiner eigenen Hölle und füllte die zerrissenen Kammern des Herzens mit Liebe.

Doch der Soldat war Soldat. Soviel Liebe kann nur ein Gott verströmen, dass ein Mensch sich von einem Augenblick zum anderen wandelt. Haras Liebe verband sich mit den dunklen Wesen im Herzen des Soldaten, und daraus wuchs ein neues, schrecklich-schönes Wesen. Der Soldat erwachte. Er hob den Kopf und sah sie an. Hara wusste, und sie konnte es nicht verhindern. Wollte sie es? Was heißt das, Liebe geben? Ist das, was wir für Liebe halten, auch für unser Gegenüber das gleiche? Wo hört die „reine“ Liebe auf, wo beginnt der „Schmutz“?

Der Soldat packte sie, die willenlos in seinen Armen lag. In seinen Augen glommen die schwarzen Flammen der Tiefe. Inmitten des Brands und der menschengeschaffenen Hölle nahm er sie, während die Zeit stillstand, die Schreie der anderen verstummten, das Lodern der Flammen verröchelte.

Hara wehrte sich nicht, sie empfand nicht einmal Ekel, Abscheu oder Hass. Alles fügte sich, wie es sich fügen muss. Sie hatte ein Licht entzündet, ein Brand war es geworden.

Der Soldat packte sie, die willenlos in seinen Armen lag. In seinen Augen glommen die schwarzen Flammen der Tiefe. Inmitten des Brands und der menschengeschaffenen Hölle nahm er sie, während die Zeit stillstand, die Schreie der anderen verstummten, das Lodern der Flammen verröchelte.

Doch sie war stark genug, auch diese Flammen aufzunehmen und sie in ihrem Inneren zu läutern. Das Böse existiert in unseren Seelen – und es liegt an uns, es zu transformieren.

Im Augenblick des Höhepunkts brach der Zeitvorhang zusammen. Sie waren wieder mitten im schrecklichen Geschehen. Der Soldat erhob sich rasch, behände, eine Schlange, die ihr Opfer erspäht und verschlungen hat. Er warf sich die Decke um und holte etwas von seiner Brust. „Hier“ sagte er zu Hara, „er wird dich beschützen.“

Damit reichte er ihr einen Stein. In der Dunkelheit und in der Röte der Flammen konnte sie nicht recht erkennen, was es war. Vermutlich war er rot, mit dunklen Einsprengseln. Sie starrte ihn an. Der Stein! Das war seine Decke – das war sein Gesicht! „Jaspis“ hörte sie ihn noch rufen, während er sein Schwert aufnahm. Und nochmals: „Er wird dich beschützen.“ Dann war er verschwunden.

Wie im Traum nahm Hara den Stein fest in die Hand und ging zum Ausgang der Hütte. Sie sah,

aber sie nahm nichts wahr. Sie hörte, aber sie blieb taub. Sie fühlte, aber ihr Herz war stumm. Sie schritt voran, wie sie es im Tempel gelernt hatte, hoheitsvoll, zeremoniell und steif. Niemand sah sie, niemand hielt sie auf. Eine unsichtbare Gasse öffnete sich vor ihr. Ihr Hirn war leer, und so konnten die Schutzgeister, die uns immer begleiten, sie dorthin führen, wo sie sicher war.

So ging sie tage- und nächtelang über das verwüstete Land, eine Einsame, die etwas in sich spürte, was ihr nicht gehörte, eine Traumwandlerin, die sich danach sehnte, aufzuwachen, die diesen schrecklichen Alptraum beenden wollte.

Irgendwann – irgendwie – irgendwo war der Krieg zu Ende, oder sie erreichte ein Land, das davon verschont blieb. Dort nahm man sich ihrer an, pflegte ihren Körper, erquickte ihre Seele, öffnete langsam ihren Geist. Als sie zuletzt wieder erwachte, als sie wieder sie selbst war, da wusste sie, dass sie schwanger war. Und sie wusste auch, dass die Zeit des Krieges zu Ende war, und dass sie die nächsten Jahrzehnte in Frieden und Harmonie verbringen würde.

So lernte sie den Gewürzkaufmann kennen, dem sie eine gute Ehefrau war – bis der Schrecken in diese Idylle einbrach.

Der Kaufmann

Der Gewürzkaufmann war rosig und rund. Irgendwie sah er aus wie ein lächelnder BuDha, gutmütig, auf bescheidene Art über alles erhaben, aber dennoch irgendwie schlau. Sonst wäre er ja auch kein erfolgreicher Kaufmann geworden.

Hara wurde ihm eine gute Frau. Sie schätzte seine Großzügigkeit, seine Toleranz, seine Güte und sein Verständnis. Er wurde zu einem ruhenden Pol in ihrem Leben. An seiner Seite vergaß sie langsam die Schrecken des Krieges, die aufwühlende Begegnung mit dem jungen Soldaten, sogar die Folgen dieser Begegnung. Ihr Sohn – der Sohn des Soldaten – war in einem Mönchskloster gut aufgehoben. Dort lernte er gutzumachen, was sein Vater den Menschen zugefügt hatte, was ihm selber zugefügt worden war.

Doch auch in dem durchaus weltlichen Leben vergaß sie nicht ihre Bestimmung, den Seelen ein Licht, den Menschen ein Vorbild zu sein. Nur dass sie jetzt diese Ideale, diese Ihre Lebensziele, auf sehr praktische Weise verwirklichte.  Sie  organisierte  Wohlfahrtsver-
anstaltungen, gründete mit dem Geld ihres verständnisvollen Mannes Waisenhäuser, sorgte sich um die Witwen, die Verwundeten des Kriegs, die Ausgestoßenen und Verlassenen.

Besonders der Kinder nahm sie sich an, denn sie hatten am meisten zu leiden unter Gewalt und Rohheit, die erst langsam wieder aus dem Alltag verschwanden. Sie wurde ihre Beschützerin und Lehrerin zugleich, ihre Gefährtin und vertraute Kameradin. Sie führte sie zum Licht, und das war gar nicht schwer, denn die Kinder sind dem Licht viel näher als wir Erwachsene, die wir die Unschuld des Herzens verloren haben.

Und wie es so schön heißt: Sie schenkte ihrem Mann zahlreiche Kinder, die in einer häuslichen und behüteten Atmosphäre aufwuchsen, die Frieden und Schönheit, Luxus und Harmonie kennen lernten. Das alles klingt wie in einem Märchen, und so schien es Hara auch bisweilen. Doch in jedem Märchen bricht unerwartet das Dunkle ein. Die böse Hexe erscheint, der Eisenhans klirrt mit den Ketten, der goldene Ball fällt in den tiefen Brunnen und muss von dort hervorgeholt werden.

Eines Tages kam ihr Mann auf seinen Fahrten durch ferne Länder über einen orientalischen Antiquitätenhändler in den Besitz eines seltsamen Gebildes. Es war eine handgroße Pyramide aus einem durchsichtigen Stoff, in derem Inneren eine durchscheinende Kugel ruhte. Was sie verbarg, das wusste niemand. Das Seherglas, wie es der Händler nannte, sollte ein uraltes magisches Gerät sein, mit dem derjenige, der sich seiner zu bedienen wusste, ungeahnte Kräfte freisetzen konnte.

Die Kugelpyramide hatte keinen guten Einfluss auf seinen Besitzer. Er erlag der Faszination des gläsernen Amuletts, das den Betrachter wie ein trübes Auge anstarrte. Seltsame Kräfte gingen von ihm aus, erfassten denjenigen, der sich länger damit abgab, zogen ihn in seinen Bann. Eine dunkle Macht verwandelte den sonst so nüchternen und bescheidenen Händler in einen besessenen Alchemisten. Doch dafür fehlten ihm die charakterlichen Voraussetzungen. Er war nun mal kein Erforscher der letzten Wahrheit, sondern ein Kaufmann. Und so schlug ihn das ‚Auge des Bösen‘, wie Hara insgeheim das magische Gerät nannte, voll in seinen Bann.

Dass der Kaufmann seine Geschäfte vernachlässigte, war nicht weiter schlimm. Seine Mitarbeiter führten sie mit Engagement und Geschick. Doch die junge Frau mit den roten Haaren aus einem Land weit im Norden, die er als Gehilfin, als Adeptin, als Schülerin und wer weiß als was noch einstellte, sie brachte zuletzt das Große Unglück. So schien es jedenfalls.

Der Kaufmann begann nun auch, Frau und Kinder zu vernachlässigen. Immer mehr Zeit verbrachte er in seinem Laboratorium, immer mehr widmete er sich den seltsamen Experimenten mit dem Talisman – und mit seiner Gehilfin. Doch die Zeiten waren solchem Tun nicht günstig. Die Furcht vor Magie saß allen Menschen tief im Herzen. Eine eifersüchtige Kirche wachte darüber, dass nur ihre Lehre Verbreitung fand. Nur ihre Angehörigen besaßen offizielle Zaubermacht. Konkurrenz war nicht geduldet.

Dennoch wäre alles gut gegangen, hätte es nicht das Unglück gegeben. In einer Gewitternacht, als die Dämonen der Winde um die Stadt tobten und die erzürnten Götter Schauer und Blitze sandten, in dieser Nacht geschah es. Das magische Gebilde war mit der Turmspitze durch einen Draht verbunden. Der Blitz schlug ein, seine Ströme durchfuhren den Kristall. Dieser zersprang und setzte seine über die Jahrtausende eingefangenen Energien frei.

Die junge Frau, die gerade mit dem Kristall gearbeitet hatte, wurde durch die Explosion sofort zerrissen, ihr Meister, der schon lange keiner war (und nie einer gewesen ist), wurde verletzt. Das Labor war ein Trümmerhaufen, und dass das ganze Haus nicht abbrannte, verdankte man nur dem schweren Regen.

Es wäre noch alles zu retten gewesen: Der Kaufmann hätte seine Lehre gehabt und wäre zu seinem angestammten Beruf zurückgekehrt. Doch das Unglück war vor der Umwelt nicht zu verbergen. Und so wurde der dunkle Arm der Kirche aktiv. Die Inquisition kam und nahm den Kaufmann mit. Hexerei war ein schweres Verbrechen. Wer ihrer angeklagt wurde, entkam kaum einer Verurteilung.

Hara war verzweifelt. Sie liebte ihren Mann, und sie wollte ihn retten. Doch sie konnte nichts tun. In das Gefängnis kam sie nicht, die Behörden gaben keine Auskunft. Und was hinter den trüben Mauern vorging, darüber erzählte man sich schreckliche Geschichten.

Da erinnerte sich Hara des magischen Spiegels der Hohepriesterin. Des Nachts zog sie sich in ihr Zimmer zurück, entzündete vier grüne Kerzen und legte den Spiegel zwischen sie. Sie dachte an ihren Mann und ließ die Bilder kommen und gehen.

Der Soldat packte sie, die willenlos in seinen Armen lag. In seinen Augen glommen die schwarzen Flammen der Tiefe. Inmitten des Brands und der menschengeschaffenen Hölle nahm er sie, während die Zeit stillstand, die Schreie der anderen verstummten, das Lodern der Flammen verröchelte.

Und sie kamen. Es waren schreckliche Bilder. Sie sah ihn in der Dunkelheit des Verlieses liegen, sie spürte am eigenen Leib die Schmerzen der Foltern, die ausgerenkten Glieder, die zerquetschten Knochen. Doch diese Qualen waren nichts gegen die Leiden des Geistes. Denn die Explosion hatte den Kaufmann zwar körperlich verletzt, aber seine Seele wieder gesund gemacht. Und er war bei klarem Verstand. Er wusste, was er seiner Familie angetan hatte, und das war viel schlimmer als die Martern des Leibes.

Hara packte den Spiegel und schüttelte ihn, als wolle sie damit das Geschehen aus der Welt schaffen. Die Bilder verschwanden, doch sie waren in ihre Seele eingebrannt und sie wurde sie nie wieder los. Denn sie wusste: Sie hätte nicht geschehen lassen dürfen. Sie hätte etwas tun müssen. Mit dem, was sie in ihrer Lehrzeit gelernt hatte, hätte sie einen Gegenzauber machen und den Kristall zum Verschwinden bringen können. Sie hatte geahnt, nein: gewusst, und sie hatte nichts getan.

Tage- und nächtelang irrte sie durch die Stadt, auf der Suche nach – wonach? Sie wusste: Niemand wollte ihr helfen, niemand konnte ihr helfen. Sie aß nichts, sie schlief nicht. Etwas trieb sie immer wieder vor das Gefängnis, doch sie konnte mit ihrem Mann keinen Kontakt aufnehmen. Und eines Tages geschah es: Sie begegnete ihm.

Es war in einer kleinen Gasse, am Abend, als die Sonne langsam der Nacht zustrebte und die Wolken purpurrot verfärbte. Da kam er ihr entgegen, und zuerst erkannte sie ihn nicht. Denn es war ein anderer Mensch. Als ob man ihn umgewandelt hätte: Er schien jugendlich und fröhlich, hatte einen aufrechten Gang und ein helles, wenn auch naives Lächeln in den Augen. Und er war nicht allein.

An seiner Seite ging ein junges Mädchen, das irgendwie seiner toten Gehilfin ähnlich sah. Auch sie hatte den fremden Gesichtsschnitt, die roten Harre und ein spöttisches Lächeln um den Mund. Einen Augenblick war Hara erstarrt, dann rief sie seinen Namen.

Doch er reagierte nicht darauf. Sie rief nochmals, und dann sah er sie an. Aber er erkannte sie nicht. Er grüßte höflich und wollte weitergehen. Doch Hara packte ihn am Gewand. „Kennst du mich nicht?“ flüsterte sie. „Ich bin es, deine Frau!“ Einen Augenblick sah er verwirrt aus, so, als ob In der Tiefe der Erinnerung etwas Verschüttetes nach oben dränge. Seine Begleiterin hing passiv an seinem Arm und rührte sich nicht.

Die Verwirrung verging. Der Mann – ihr Mann, der Geschundene, den eine Gehirnwäsche zu einem anderen und anscheinend glücklichen Menschen gemacht hatte, dieser Mann griff sich an den Hals und holte eine Kette hervor. „Hier, mein Kind“ sagte er zu Hara, „für dich.“ Und er ging weiter, Arm in Arm mit dem jungen Mädchen, glücklich und leer.

Hara besah den Schmuck. Es war ein grüner Drache, der in einer fürchterlichen Grimasse sein Maul aufriss und sie böse anstarrte. Der Drache war ganz eigenartig modelliert. Wenn sie ihn drehte, schimmerte an manchen Stellen ein dunkles Rot durch, so, als ob das Monster seine wahre Farbe zeigen wollte. Hara ging wie im Traum nach Hause. Sie legte den Drachen in eine Schatulle und vergrub diese im Hof ihres Hauses. Sie zerschlug den Schwarzen Spiegel in tausend Scherben und warf diese in den Fluss. Sie zerriss ihre Kleider, verschenkte ihren Schmuck und ging fort. Doch sein Bild, das Bild ihres langjährigen Gefährten und Geliebten, des ruhenden Pols ihres Lebens, sie konnte es nicht aus ihrem Herzen tilgen. Wäre er tot gewesen, hätte sie ihm ein ehrendes Andenken bewahren und ihre Vorwürfe sich selbst gegenüber pflegen können.

Aber er war nicht tot. Er war nicht mehr – er selbst. Sie hatte ihn verloren. Und vielleicht war er sogar glücklich. Denn er wusste nichts mehr. Und seine Besessenheit, die letzte Wahrheit zu finden und das magische Erbe einer dunklen Vergangenheit anzutreten, sie war verschwunden. Er war wieder ein Kind. Er konnte sich freuen, konnte unbeschwert lachen und das Leben genießen. Doch auf Haras Herzen lastete die Dunkelheit des Verstehens.

In der nächsten Episode geht Hara bei einem strahlenden Gott in die Lehre – und blickt hinter die Maske des Schwarzen Todes.

In einer Gewitternacht geschah es: Der Blitz schlug ein, seine Ströme durchfuhren den Kristall. Dieser zersprang und setzte seine Energien frei.

Der strahlende Gott

Und wieder kam Unglück übers Land, diesmal in Form einer Seuche. Woher sie kam, niemand wusste es. Seeleute brachten sie mit. Der Schwarze Tod vernichtete alle, Junge und Alte, Arme und Reiche, Heilige und Sünder. Wieder kamen Zeiten wie damals im Krieg. Doch jetzt kämpften nicht Menschen gegen Menschen, sondern ein unsichtbarer Feind raffte alle dahin, und niemand konnte sich wehren.

Hara jedoch kannte ihre Bestimmung. Schon vorher hatte sie sich, über die Kontakte ihres Ehemanns, mit der Heilkunde beschäftigt, die von einer hohen und alten Kultur aus dem Osten kam. Doch der Schwarze Tod, der die Gesichter der Menschen so schrecklich verunstaltete, der das Dunkle aus den Herzen im Antlitz sichtbar machte, er widerstand den Kräutern und Säften, den Salben und Steinen.

Hara wusste, dass nur die Kräfte der Seele gegen diese Seuche etwas ausrichten konnten. Doch solche Kräfte kann niemand von heute auf morgen in sich freisetzen – jedenfalls nicht in dem Maße, wie es bei einer Seuche nötig wäre. Trotz der aufopfernden Arbeit im Hospital wusste Hara, dass sie ihre Bestimmung noch nicht gefunden hatte. Sie war auf der Suche.

Wer innerlich bereit ist, zu dem kommt auch – sein Erlöser. Oder wen auch immer er einlädt. Eines Tages klopft er – sei es ein Mensch, ein Gott, ein Dämon – an die Pforten der Seele, und dann ist es Zeit, ihm zu öffnen und ihn hereinzulassen, wer immer er auch sei.

So erging es Hara. Eines Tages, als sie aus der Apotheke zurückkam, sah sie ihn. Er ging, nein er schritt, gemessen, langsam, würdevoll und beinahe schwebend über die schmutzbedeckte Straße. Doch seine Sandalen blieben rein, sein weißer Umhang verstrahlte die Kraft der Sonne, und sein Antlitz leuchtete. Sie wusste sofort, das war der Mann – der Gott? – der ihr zeigen konnte, wie sie den Schwarzen Tod besiegen würde.

Und da sie selbst den Funken einer Göttin in sich trug, hatte sie auch keine Angst, diese Erscheinung anzureden. Sie stellte sich vor ihn hin. „Hier bin ich“ sagte sie und sah ihm fest in die Augen. Er sah sie an, und das leuchtende Blau seiner Augen spiegelte die Weite des Himmels wider. Sein Blick war so intensiv, dass er sie gar nicht erfassen konnte. Er ging durch sie hindurch. Wie ein Adler, fuhr es ihr durch den Kopf. Er ist nicht von dieser Welt, dachte sie. Er kommt aus der Höhe. Ein strahlender Gott, der ihr gesandt ward, damit sie die letzte Stufe der Erhebung erfahren konnte.

„Ich weiß“ sagte der Strahlende mit leiser Stimme. Sein Gesicht war wie aus Glas – leuchtend, klar, überirdisch. „Folge mir.“ Und Hara folgte ihm.

Es war wie eine zweite Lehrzeit. Nur fand sie nicht in einem Tempel statt, sondern mitten drin im schrecklichen Geschehen. Der Strahlende – sie wusste seinen wahren Namen nicht – hatte kein Zuhause. Er war ein Wanderer zwischen den Welten, immer unterwegs, nie erlahmend, von überirdischer Energie erfüllt. Niemals zeigte er das, was wir als ‚menschliche Regung‘ bezeichnen. Er weinte nicht und er lachte nicht. Er hatte keine Ansprüche und keine Begierden.

Eine Aura der Unangreifbarkeit umgab ihn Tag und Nacht.

Doch er war kein Gott, sondern ein Mensch. Er aß, wenn auch nicht viel, trank (meist selbstgebraute Säfte), er schlief die üblichen Zeiten und war durchaus auch einmal müde oder nicht so strahlend. Trotz der ständigen Nähe zu ihm kam Hara ihm nicht näher. Er war ihr Führer. Immer ging er ihr voran – bildlich gesprochen – und sie folgte ihm. Und sie lernte.

Sie lernte, wie das tiefverborgene menschliche Kräftepotential mobilisiert und dem Schwarzen Tod entgegengehalten werden konnte. Der Schwarze Tod, auch das erfuhr sie, hatte eine geheimnisvolle Ursache. Er war der personifizierte Alptraum eines Wesens mit übernatürlichen Fähigkeiten. Wenn man dieses Wesen aufwecken oder vernichten könnte, dann müsste der Alptraum verschwinden. Aber erst musste man es finden. Und das ging nicht, denn der Schwarze Tod war überall, und seine Spur verlief im Nichts.

Allmählich wurde sie zur Meisterin. Ihr Ruf durchdrang die Lande. Wieder war die Zeit zum Abschiednehmen von ihrem Lehrer gekommen. Doch diesmal lief es anders, ganz ohne Zeremonie. Eines Tages war das Wesen mit den strahlenden Augen verschwunden. Und das war auch gut so, denn nun fand Hara den Mut, das zu tun, was sie für richtig hielt. Sie brauchte sich selbst nicht mehr zu rechtfertigen vor dem – Gott? Heiligen? – Sie konnte sich auf ihre innere Wahrheit verlassen, und die verließ sie nie.

So tat sie Gutes, wo sie konnte, und manchmal kam es ihr fast vor, als ob der Schwarze Tod vor ihr zurückweiche. Sie wurde umjubelt und gefeiert, aber der Ruhm stieg ihr nicht zu Kopf. Sie blieb bescheiden, anspruchslos, ihrer Aufgabe hingegeben. Und irgendwie wusste sie, dass sie ihr Lebensziel durch ihre heilende Tätigkeit allein nicht erreicht hatte.

Denn unser Lebensziel liegt niemals im Äußeren. Immer suchen wir etwas in den Tiefen unserer Seele – unseren Himmel oder unsere Hölle. Der Schrecken der Welt ist der Schrecken in den Kammern des Herzens. Die Erleuchtung finden wir im Licht unserer Herzen. Und so war auch Hara – mehr unbewusst als vom Willen bestimmt – auf der Suche nach – wonach? Sie wusste es nicht. Doch sie war eine Getriebene, ein Mensch, dem ein Ziel eingegeben wurde, das er nicht erkennt, aber dennoch verfolgt.

Und eines Tages war es soweit. Jahrelang hatte sie die Seuche bekämpft, den Menschen Licht und Weisheit gebracht, den Schrecken vertrieben und das Gute verwirklicht. Und dann, nach Jahren oder Jahrzehnten (so lange wütete die Seuche), auf einem Feld voll Röchelnder und Sterbender, fand sie ihn.

Und plötzlich wusste sie: Es gab ihn wirklich. Das Wesen, dessen Träume sich im Schwarzen Tod manifestierten. Und dort, zwischen diesen armseligen Gestalten, den sich Windenden und Sterbenden, den Aufbegehrenden und um Erlösung Flehenden, zwischen den Gestalten aus Jammer und Elend, schritt ein Wesen in einem Schwarzen Umhang, feierlich, gemessen, den Kopf gesenkt, in sich versunken.

Sie wusste sofort. Und plötzlich, nach all den Jahren der Liebe und der Hilfe, der Hoffnung und des Lichtbringens, hatte sie Angst. Die Begegnung ihres Lebens stand ihr bevor. Sie wusste es. Sie wusste, dass die große Bewährung gekommen war. Und dass es ein Treffen auf Leben und Tod sein würde. Vielleicht sogar ein Treffen mit dem Tod.

Sie sammelte ihre inneren Energien, entzündete die Lichter ihrer Seele und ging auf die Gestalt im Schwarzen Umhang zu. Langsam kam sie ihm näher, obwohl ihre Füße immer schwerer und ihre Gedanken immer dunkler wurden. Blei legte sich auf ihr Gemüt, Steine klammerten sich an ihre Seele, Dunkelheit wollte ihren Geist verhüllen. Die Schwärze des Wesens brandete gegen sie, die Kälte kroch in ihre Knochen. Doch sie hielt stand. Sie betete zu ihrem Gott – zu ihrer Göttin – sie dachte an das, was sie ihr Führer gelehrt hatte, und sie trat zuletzt auf das Wesen im Schwarzen Umhang zu,

Einen Augenblick noch zögerte sie, dann fasste sie von hinten seinen Umhang. Sie hatte erwartet, sich die Finger zu verbrennen – oder zu erfrieren, doch der Stoff des Umhangs fühlte sich an wie ganz gewöhnlicher Stoff. Wie schwerer Samt, wie ein Vorhang, wie ein Teppich, der die Falltür verbirgt, unter der die Schrecken der Nacht wohnen.

Das Wesen drehte sich um, langsam, bedächtig, wie aus einem tiefen Gedanken gestört. Es sah sie an. Das Gesicht war von einer schwarzen Maske bedeckt, die das Licht reflektierte. Die Augen dahinter waren kaum erkenntlich. Als ob sie kein Licht verstrahlen (wie es viele Augen tun), sondern alles Licht aufsaugen und verschlucken.

Hara sammelte all ihren Mut. „Gib dich zu erkennen!“ rief sie mit brüchiger Stimme, und sie wunderte sich über sich selbst. Sollte das heißen, das sie ihn kennen würde? Dass sie tief in ihrem Inneren wusste, wer er war? Wie konnte das möglich sein?

Der Schwarze Tod hob langsam, fast müde, die Hand und griff nach seiner Maske. Einen Augenblick lang war Hara versucht, ’nein!‘ zu rufen. Doch sie nahm sich zusammen.

Unendlich langsam, die Zeit gefror zu eisiger Nacht, zog das Wesen die Maske vom Gesicht. Und das Schreckliche trat ein: Sie erkannte ihn sofort. Es war der Gott mit den strahlenden Augen.

„Nein!“ schrie sie in tiefster Qual, denn sie fühlte sich betrogen. Doch der Schwarze Dämon sah sie ruhig an. Er sah nicht mehr durch sie hindurch, er sah in ihre Augen, und ein seltsamer Ausdruck glomm in ihnen auf. Es war – ein Teil von Hara konnte noch nüchtern analysieren – es war Mitleid. „Du siehst etwas, und doch siehst du nichts.“ sagte der Schwarze Tod mit müder Stimme. „Du glaubst, deinen Lehrer und Führer zu erkennen, und doch bin ich es nicht.“

Hara hatte sich wieder gefasst. „Wer bist du?“ fragte sie mit kühler Stimme, herausfordernd, überlegen. Der Schwarze Tod blickte zu Boden. „Warum bist du geboren?“ fragte er sie. „Um den Menschen zu dienen“ antwortete Hara ohne Zögern. „Um ihnen Licht und Liebe zu bringen.“ „Wer bin ich?“ fragte das Wesen vor ihr, immer noch zu Boden blickend. „Du bist ein Dämon, durch dessen Träume dieser ganze Schrecken entstanden ist.“

Da sah der Schwarze Tod auf und blickte sie traurig an. „Es wäre schön, wenn es so wäre.“ sagte er, und seine Stimme war weich und voller Mitleid. „Es wäre schön, wenn jemand da wäre, den du verantwortlich machen könntest, auf den du Schuld und Boshaftigkeit schieben kannst. Aber es ist nicht so.“

Hara spürte die Kälte der tiefsten Nacht nach oben kriechen. Denn sie ahnte – sie wusste – sie verschloss den Geist, aber es war, das wusste sie, zu spät. „Wer hat die Schrecken geträumt und sie zu seiner Welt gemacht?“ fragte das Wesen im Schwarzen Umhang. „Und wer hat daraufhin eine heile Welt sich erdacht, um sich selbst zu bestätigen, sich seiner Aufgabe rühmen zu können, den Menschen Licht und Liebe zu bringen?“

„Du weißt es, Hara. Du selbst bist der Dämon, der all dies geträumt – und verwirklicht hat. Du selbst hast in deinen Träumen diesen Schrecken über die Welt gebracht, um ihn in Deinem Wachsein wieder zu mildern. Diese Welt – sie ist dein Traum. Du brauchst sie zu deiner Bestätigung, zu deiner Wandlung, zu deiner Vollendung. Und im Glück, in Harmonie und Frieden wirst du niemals nach Höherem streben oder das Dunkle in deiner Seele verändern.“

Hara sank zu Boden. Das Leben wich aus ihr, denn die Wahrheit war zu schrecklich. Aber tief in ihrem Inneren hatte sie es immer geahnt. Und darum hatte sie auch so dagegen gekämpft – in der Welt da draußen, anstatt im Inneren ihrer Seele.

„Hier“, sagte der Schwarze Tod voll Mitleid und Liebe, „nimm diese meine Maske. Ich brauche sie nicht mehr. Es war nie meine Maske, es war immer Deine. Du hast die Hölle deines Herzens dahinter versteckt. Doch die Zeit des Versteckens ist vorbei. Im Angesicht der letzten Stunde zählt nur noch die Wahrheit.“

Damit legte er ihr die Maske in die Hand, jene Maske, die auf der einen Seite die strahlende Reinheit durchsichtigen Glases besaß, und auf der anderen Seite die dunkle Schwärze tiefster Verborgenheit.

Und er ging davon, langsam, müde, eine kraftlose Gestalt, die ihre Aufgabe erfüllt hat.

Der Schwarze Tod vernichtete alle, Junge und Alte, Arme und Reiche, Heilige und Sünder. Wieder kamen Zeiten wie damals im Krieg. Doch jetzt kämpften nicht Menschen gegen Menschen, sondern ein unsichtbarer Feind raffte alle dahin, und niemand konnte sich wehren.

Übergang

Hara kam an den Strand des Meeres und sank auf den feuchten Sand. Als sie aufblickte, saß neben ihr der Hüter der Schwelle. Sein Gesicht war steinern, und doch von zeitloser Jugend. Seine Augen waren schwarze Kohlestücke, hinter denen der blendende Glanz kristallklarer Diamanten schimmerte. Mit einem knorrigen Stab, der wie ein Stück Knochen aussah, zeichnete er Figuren und Symbole in den Sand.

„Die Zeit ist gekommen“ sagte er mit milder Stimme. „Du wirst alles vergessen, und im nächsten Leben wirst Du nur mit Mühe wieder erkennen, was mit Dir geschah, wem Du Gutes getan hast und wem Du etwas schuldig bist.“

„Verzweifle nicht!“ fuhr er salbungsvoll fort (denn in Wirklichkeit war er ein verhinderter Philosoph). „Du wirst vielen Menschen begegnen. Manche wirst Du sofort wiedererkennen, bei manchen wird dich nur eine Ahnung anwehen, ein Hauch der Erinnerung, das Zittern eines langverwesten Bandes. Gib nicht auf! Deine Aufgaben sind nicht zu Ende; im nächsten Leben musst du vollenden, was hier Stückwerk blieb.“

„Karma“ fuhr er fort, während Hara kaum noch zuhörte, denn ihre Lebenskraft schwand rapide, „ist ein Rad, das sich unaufhaltsam vorwärts dreht. Lass Dich nicht mitschleifen, denn dadurch bleibst du auf der gleichen Stufe. Und du musst wachsen, wie die ganze Menschheit und mit ihr der Kosmos wächst. Tue etwas anderes – aber tue das Richtige!“

„Erkennen“ dozierte der Dunkeläugige, „heißt erschaffen. Deine Wirklichkeit ist nur Deine Welt. Du bist ganz allein. Kein Gott wird dir helfen, denn es gibt keinen Gott außer dir. Du allein erschaffst dein Universum. Es ist deine Welt, und wie sie wird, das hängt allein von dir ab.“

„Alles ist Illusion“ seufzte der Alte und malte eine Formel in den Sand (für die Mathematiker unter euch: den Satz vom Fixpunktoperator). „Nichts hat Bestand, nichts ist wirklich.“

Doch Hara hörte nichts mehr. Die Maske umklammernd hatte sich die Seele befreit, um sofort den großen Plan für die nächste Inkarnation zu machen, der dann ebenso schnell wieder vergessen wurde.

Karma

Das Erwachen kam zögernd, als hätte das Bewusstsein Angst, den Traum zu verlassen und der Wirklichkeit stand zu halten. „Tee“ hörte sich Hara sagen, als ob die Stimme nicht zu ihr gehöre. „Das heilige Getränk einer anderen Gottheit.“ fügte sie hinzu, und in ihrer Stimme schwang Entsetzen. Denn diese Worte kannte sie.

„Du warst eine gute und gehorsame Schülerin“ fuhr Hara fort und blickte auf das Gesicht ihr gegenüber, in die schüchternen, reinen, hungrigen Augen, die sie gläubig und erwartungsvoll ansahen. Der stille Raum war erfüllt von der Feierlichkeit einer Göttin. Mechanisch fuhr sie fort: „Du wirst jetzt in die Weit hinausgehen und Dein Wissen anwenden und, soweit es nötig und erlaubt ist, unter die Menschen bringen.“

Hara hielt inne. Die Kehle war trocken, die Gedanken versiegten in ihrem Hirn aus Schwamm und flüssiger Erinnerung. Nur ein Wort kreiste verzweifelt im Chaos ihres Mikrokosmos: Karma. Das ewige Rad, die Folter der Erinnerung …

Sie musste weiter machen, sie musste ihr Karma erfüllen. Aber wer war sie? Und was war ihr Karma? Sollte sie den Kreislauf durchbrechen, sollte sie das tun und sagen, was schon getan und gesagt war? Gab es überhaupt eine Wahl? Was konnte sie eigentlich sagen?

Die Worte kamen von selbst, denn nur diese Worte existierten in diesem Moment, und nur sie konnten gesagt werden. „Da draußen“ hörte sich Hara sprechen, „in der Welt voll Krieg und Hass, voll Gewalt und Niedertracht, sollst Du eine Perle der Liebe sein. Du sollst das Licht weitergeben, das hier in deinem Herzen entzündet wurde. Es wird dir manchmal schwer

fallen. Du wirst vielen Menschen begegnen. Manche werden an dir schuldig werden, an manchen wirst du Schuld abladen. Das ist nicht so schlimm. Wir alle sind unvollkommen. Doch denke daran, dies ist nicht unser erstes Leben, und es wird nicht unser letztes sein. Was du hier begonnen hast, kannst du im nächsten Leben vollenden. Was du hier den Menschen Schlimmes angetan hast, kannst du im nächsten Leben gutmachen. Karma ist nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung, sondern das Gesetz des Ausgleichs. Und es unterliegt deinem freien Willen, dieses Gesetz zu erkennen, anzuwenden und zu erfüllen.“

„Ich habe hier“ fuhr Hara fort, während sie aufstand und eine Schatulle aus schwarzem Holz holte, „ein Geschenk für dich.“ Sie entpackte den Schwarzen Spiegel. „Was siehst du?“ fragte sie ihr Gegenüber, während sie selbst voll Schrecken in den Spiegel starrte.

Sie sah in den Spiegel und sah sich selbst. „Gorgo Medusa“ flüsterte sie lautlos. Der Spiegel, der das wahre Gesicht des Menschen zeigt, wenn er oder sie es sehen will. Oder das wahre Gesicht des eigenen Wesens – nicht die leichte Gottheit, für die du dich hältst, nein, den Dämon in dir, mit dem du Macht über die Menschen hast und diese Macht auch noch genießt.
Und während Hara ihrem Spiegelbild die Funktion des Schwarzen Glases erklärte, kroch der Schrecken der Hölle in ihr Herz und umspülte es mit den schwarzen Wogen aus einer fernen tiefen, gewaltigen Welt.

Und während Hara ihrem Spiegelbild die Funktion des Schwarzen Glases erklärte, kroch der Schrecken der Hölle in ihr Herz und umspülte es mit den schwarzen Wogen aus einer fernen tiefen, gewaltigen Welt.

ENDE